Eugen Gomringer (1925–2025): Stromschnellen der Hoffnung

Nr. 35 –

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Portraitfoto von Eugen Gomringer
Eugen Gomringer, Lyriker. Foto: Reiner Zensen, Imago

Romane hat Eugen Gomringer nie veröffentlicht. Aber wenn man sich einen Roman über ein Dichterleben im 20. Jahrhundert vorstellen wollte, dann böte sein Leben eine verblüffende Vorlage. An den «Stromschnellen der Hoffnung», in Cachuela Esperanza im Norden Boliviens, wurde der Sohn eines Schweizer Kautschukfabrikanten und einer Bolivianerin geboren. Aufgewachsen ist er bei seinen Grosseltern an der Goldküste am Zürichsee. Prägende Jahre verbrachte er in Ulm als Sekretär des Schweizer Künstlers und Architekten Max Bill, den er bewunderte. So konkret und formbewusst wie dessen Kunst sollte seine Lyrik sein.

1953 veröffentlichte er die dreisprachige Gedichtsammlung «Konstellationen, Constellations, Constelaciones», die heute als das erste Werk der Konkreten Poesie gilt. Daneben arbeitete er als Werbetexter für eine Schweizer Warenhauskette. Später wurde Gomringer Kulturbeauftragter einer Porzellanfabrik im bayerischen Fichtelgebirge. Noch später kamen die Ämter und Ehrungen: Ab 1971 war er Mitglied der Berliner Akademie der Künste, ab 1978 lehrte er an der Kunsthochschule in Düsseldorf, ab 1990 an der Westsächsischen Hochschule in Zwickau.

Gomringers Beiträge zur Konkreten Poesie gehören heute zum Schulkanon – zum Beispiel das Gedicht «ping pong», bestehend aus fünf «ping» und fünf «pong», die auf der Seite grafisch angeordnet sind. Sein Schaffen umfasst sehr viel mehr: 170 Laufmeter misst sein Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern – neben Lyrik und Prosaentwürfen gehören dazu auch die Briefe, die er mit etwa 3000 Personen wechselte.

Gomringer hat mit seinen Gedichten den Raum gefüllt. Dass nicht jedes Gedicht in jedem Raum die gleiche Botschaft bringt, musste auch er erfahren, als 2016 Berliner Student:innen gegen sein spanisches Gedicht «avenidas» protestierten, das 2011 in grossen Lettern auf der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule angebracht worden war. Inszeniert es den männlichen Blick? Macht es Frauen zu blossen Objekten der Bewunderung? Die Mehrheit der Hochschulangehörigen stimmte für die Entfernung des Gedichts. Von unterdrückter Kunst kann trotzdem keine Rede sein. Seither prangt «avenidas» an vielen Hauswänden zwischen Berlin und Bayern. Vielleicht hätte sich ein anderes Gomringer-Gedicht auf der Hochschulwand besser gemacht – zum Beispiel das Ideogramm «schweigen»?

Am 21. August ist Eugen Gomringer im Alter von hundert Jahren in Bamberg gestorben.