Raphael Urweider: «Man kann als Lyriker auch viel Blödsinn machen»
Seine Gedichte tippt er manchmal auch ins Smartphone: Raphael Urweider über den Dichter als Luxuskarosse und den Hang der Lyrik, sich selbst zu marginalisieren.
WOZ: Raphael Urweider, leben wir in unlyrischen Zeiten?
Raphael Urweider: Ich habe nicht das Gefühl, dass die Zeit, in der wir leben, weniger lyrisch wäre als auch schon. Heute gibt es viel mehr Leute, die lesen können, als noch vor hundert Jahren. Es gibt auch viel mehr Leute, die kurze Texte lesen, als noch vor hundert Jahren. Das Problem liegt in der Definition: Dadurch, dass die Lyrik gerade im deutschen Sprachraum sehr vieles ausschliesst, marginalisiert sie sich selber.
Was für Ausschlüsse meinen Sie?
Ich habe ja über H. C. Artmann wirklich Lust bekommen, Lyrik zu schreiben, weil ich gemerkt habe: Man kann als Lyriker auch viel Blödsinn machen. Aber in der Lyrik gibt es diese Tendenz, zu definieren, was dazugehört und was nicht. Als Bob Dylan den Nobelpreis bekam, gab es gerade im deutschen Sprachraum einen riesigen Aufschrei. Aber wer hat eigentlich gesagt, dass Popmusik nicht auch Literatur sein könne? Wenn Sie sagen würden, der Rapper Samy Deluxe sei einer der grössten Lyriker Deutschlands, wäre Lyrik eine Gattung, die gleich viel verkauft wie Prosa.
Heisst das, dass die Grenzen zwischen Pop- und Hochkultur, die in anderen Gattungen längst durchlässig geworden sind, in der Lyrik weitgehend unangetastet bleiben?
Die Lyrikwelt ist schon ein etwas eigenes Grüppchen. Das ist ein verschwindend kleiner Kreis von Leuten, die unter sich ausgemacht haben, was zur Lyrik gehört und was nicht. Hans Magnus Enzensberger hat einmal eine Konstante definiert, wie viele Exemplare von einem guten Lyrikband etwa verkauft werden. Im Umkehrschluss könnte man vielleicht sagen: Wenn sich etwas zu gut verkauft, ist es schon verdächtig und wahrscheinlich nicht mehr richtige Lyrik. Im letzten Jahrhundert gab es vielleicht einen oder zwei Lyriker, die von ihren Gedichten leben konnten. Alle anderen mussten immer noch andere Sachen machen, oder sie hatten Mäzene oder staatliche Unterstützung. Mit Prosa ist das anders, da kann man potenziell davon leben. Ich werde jetzt auch immer gefragt, was ich denn die letzten zehn Jahre gemacht habe.
Und was sagen Sie dann?
Ich habe ganz viel gemacht, einfach keine Lyrik veröffentlicht. Wir Lyriker sind für die Verlage so etwas wie die Maybachs: Wenn ein Verlag sich noch leisten kann, ein paar Luxuskarossen zu produzieren, ist das gut fürs Renommee. Aber es rennt dir natürlich auch niemand die Bude ein und fragt, wann du denn endlich wieder einen Lyrikband machst.
In Ihrem neuen Band ist ein ganzer Zyklus konkreten Städten in aller Welt gewidmet. Im Gedicht über London äussern Sie den Wunsch, Gedichte in Holz zu ritzen, statt in Hefte und Bücher zu kritzeln, «die kaum einer noch mitträgt». Sind Sie nostalgisch?
Nicht unbedingt, es ist einfach eine Beobachtung. Wenn du heutzutage jemanden um einen Kugelschreiber bittest, ist das schon schwierig. Oder wenn dir jemand seine Telefonnummer gibt, tippst du sie gleich ins Handy, statt sie auf einen Zettel zu schreiben. Durch den Medienwandel muss man sich auch als Lyriker überlegen, was man eigentlich macht und was man will. Für mich muss ein Buch ein schönes Objekt sein, denn sonst muss man es gar nicht erst machen. Die Anordnung und die Komposition auf der Seite sind ein Teil der Kunst. Ich mache auch einen Unterschied zwischen dem gedruckten Gedicht, wie es auf einer Seite platziert ist, und der akustischen Lesung. Das sind für mich fast schon zwei verschiedene Objekte. Und ein Buch kann man nicht irgendwo herunterladen. Du kannst es zwar kopieren, aber das ist nicht mehr das Buch. Es sind dann einfach Fotokopien oder PDFs oder was weiss ich.
In einem Gedicht über Johannesburg wiederum heisst es, Geld und Pass und SIM-Karte könne die Stadt haben, nicht aber das Telefon, denn da seien noch Gedichte drin. Tippen Sie Ihre Gedichte auch mal ins Smartphone?
Ja, in Südafrika schon. Wir waren damals auf einer Lesetournee und fuhren jeden Tag in zwei Minibussen in eine andere Stadt. Zu acht oder neunt in so einem Bus: Da kannst du keinen Laptop aufklappen, und weil es rumpelt, kann man auch nicht von Hand schreiben. Da habe ich mir angewöhnt, auf dem Handy zu schreiben. Und bei den Lesungen habe ich meine Gedichte dort zum Teil auch vom Handy abgelesen.
Gibt es auch Städte, die Sie zu keiner Zeile inspirieren? Oder solche, vor denen Sie als Lyriker kapituliert haben?
Viele, ja. Über die Schweiz zum Beispiel habe ich praktisch nichts geschrieben. Ich hatte schon mal ein Gedicht über Bern geschrieben, aber das ist dann wieder herausgefallen. Innsbruck ist auch herausgefallen. In China habe ich mal irgendwo gelesen: Wer für eine Woche nach China kommt, schreibt ein Buch. Wer ein Jahr bleibt, schreibt einen Artikel. Und wer fünf Jahre bleibt, schreibt vielleicht noch ein Gedicht. Das heisst, je besser man etwas kennt, umso schwieriger wird es, darüber zu schreiben. Es ist auch eine selbstherrliche Verallgemeinerung, wenn man eine ganze Stadt in ein paar Zeilen zu fassen versucht. Der eigene Blick ist immer begrenzt. Abu Dhabi ist für mich zu neunzig Prozent das klimatisierte Hotelzimmer.
Wenn Sie sehen, wie über ein Gedicht von Eugen Gomringer gestritten wurde, das an der Fassade einer Fachhochschule in Berlin übermalt werden soll: Freut Sie das als Lyriker, oder fanden Sie das eher erbärmlich?
Ich habe in diesem Gedicht nichts Problematisches gesehen. Diese Art von Minnegesang kommt ja aus dem Mittelalter. Das waren immer schon Männer mit zu viel Testosteron, die schöne Frauen besangen. Und aus diesem Gedicht spricht ja auch ein lyrisches Ich. Es ist nicht einfach Eugen Gomringer, der sagt: «Schau, da hats noch ein paar geile Frauen.» Das Ich in einem Gedicht ist eine grammatikalische Form, nicht viel mehr. Das wird oft verwechselt. Und dieses lyrische Ich bei Gomringer ist auch nur bewundernd, es wird nicht tätlich wie beispielsweise der amerikanische Präsident. Aber es ist nicht an mir, zu sagen, das sei ein Scheinproblem. Ich bin keine Frau, und ich gehe auch nicht dort zur Schule.
Angesichts dieser Debatte könnte man festhalten: Lyrik bewegt offenbar die Gemüter. Das ist eigentlich erfreulich.
Wenn man Lyrik auf eine Hauswand malt, dann ist sie danach halt auch ein öffentliches Kunstwerk. Dieses Gedicht von Gomringer ist ja nicht neu. Es ist uralt. Das erhitzte nur deshalb irgendwelche Gemüter, weil man es auf eine Hauswand angebracht hatte. Es ging dann gar nicht um das Gedicht selbst, sondern um seine Präsenz. Ich habe kürzlich wieder jenen Text von Max Frisch gelesen, in dem er von den «Negern» in Harlem schreibt, und dass die so unterwürfig und lieb seien. Wenn man den heute irgendwo auf einer Hauswand anbringen würde, wäre das ein Riesenskandal.
Sie sagten einmal, Lyrik sei für Sie kein Medium der Tagespolitik.
Ja, aber in den meisten Texten steckt schon eine politische Haltung drin. Ich will mich in zwanzig Jahren auch nicht schämen müssen für das, was ich geschrieben habe. Es gibt sicher auch «Gebrauchslyrik», aber man hat eh schon fast kein Publikum, wozu also soll ich ein Gedicht schreiben über die Wahlen in Frankreich? Ich bin da eher ein Klassiker – nicht im Sinne von konservativ, aber ich finde, ein gutes Gedicht muss eine möglichst lange Halbwertszeit haben. Ich schreibe zum Beispiel auch nicht von «Whatsapp», sondern einfach «Telefon». Weil ich denke, dass es das Telefon noch eine Zeit lang geben wird oder dass die Leute zumindest noch wissen werden, was das war. Cézanne soll einmal gesagt haben: Malt keine Eisenbahnen, sie machen eure Bilder alt. Das heisst, wenn du nur die Natur malst, sieht es in fünfzig Jahren immer noch gleich aus, aber wenn du eine Dampflok malst, ist sofort klar, wann das Bild gemalt wurde.
Gibt es also Wörter oder Begriffe, die Sie sich verbieten oder die Sie vermeiden?
Instinktiv wahrscheinlich schon. Es ist zwar nicht so, dass ich eine Liste mit verbotenen Wörtern hätte. Aber ich versuche häufig, eine Formulierung zu finden, die dasselbe sagt wie irgendein Modewort, aber eine längere Gültigkeit hat. Das regt mich manchmal auf in den Medien. Etwa, wenn «20 Minuten» die Urkunde der Gründung von Bern zeigt und dazu schreibt, die Urkunde beruhe auf «Fake News». Da muss ich sagen: Okay, man kann dem schon auch so sagen. Aber man hätte auch einfach schreiben können, es sei eine Fälschung. Es gibt immer wieder solche Modewörter, die zu Tode geritten werden, und zwei Jahre später kennt sie niemand mehr. Das versuche ich zu vermeiden. Oder auch technologischen Unsinn.
Zum Beispiel?
Vor zehn Jahren sagte man noch: «Ich gehe jetzt ins Internet.» Ich wusste schon damals, dass man das in zehn Jahren nicht mehr machen wird. Entweder ist man im Internet, oder man hat gerade keins, aber es ist einfach da.
Aber solche Wendungen können auch eine konkrete Zeitlichkeit herstellen.
Ja, aber das interessiert mich eben bei Lyrik nicht so sehr. Bei Prosa wäre das anders. Mir ist egal, ob ein Gedicht 2000 Jahre oder zwei Tage alt ist. Wenn es gut ist, wirkt es unmittelbar. Ich habe gerade etwa achtzig Prozent meiner Bibliothek entsorgt. Lyrikbände habe ich einfach irgendwo aufgeschlagen, zehn Zeilen gelesen und dann entschieden: Das brauche ich noch, das nicht mehr. Diese Unmittelbarkeit reizt mich bei der Lyrik mehr als der historische Kontext. Es ist ein bisschen wie Musik. Es klingt vielleicht ein wenig arrogant, aber ich habe selten Lyrik gelesen, die mich erst ab dem vierten Gedicht gepackt hat.
Raphael Urweider
Zuletzt übersetzte er Pedro Lenz’ Mundartroman «Di schöni Fanny» ins Deutsche, jetzt hat der 43-jährige Raphael Urweider erstmals seit zehn Jahren wieder einen Gedichtband vorgelegt. In «Wildern» wirft er Schlaglichter auf Städte zwischen Brüssel und Schanghai, er erforscht Südfrüchte und entführt uns zuletzt in seine frühe Kindheit zwischen toten Fliegen und Kaltem Krieg. Den Auftakt macht ein fulminanter Wildwechsel im multiplen Sinn des Wortes: Da wechselt das lyrische Ich zwischen Jäger und Wildtier, zwischen Förster und Wilderer, rastlos auf der Suche nach dem, was «noch nicht botanisiert» ist.
Raphael Urweider: «Wildern». Gedichte. Hanser Verlag. München 2018. 102 Seiten. 29 Franken.
Veranstaltungen mit dem Autor in Solothurn am Fr, 11. Mai 2018, um 10.30 Uhr, um 14 Uhr und um 20 Uhr, am Sa, 12. Mai 2018, um 15 Uhr und um 20 Uhr und am So, 13. Mai 2018, um 14.30 Uhr.