Roger «Nzoy» Wilhelm : Alles ganz anders

Nr. 35 –

Von wegen «Notwehr»: Eine Untersuchung der Rechercheagentur Border Forensics bringt die Waadtländer Polizei in Bedrängnis.

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Roger «Nzoy» Wilhelm wurde am 30. August 2021 am Bahnhof Morges von Polizisten erschossen, nachdem er – wahrscheinlich in einer psychotischen Episode – auf den Gleisen umhergeirrt war. Er trug am Tag seines Todes ein Messer auf sich. Und das Narrativ des Messerangreifers, des gefährlichen Attentäters, gelangte schnell in die Welt. «Sein Messer war 26 Zentimeter lang», titelte etwa der «Blick», um die Gefährlichkeit des erschossenen Schwarzen Mannes zu betonen.

Das Messer – es steht nun auch im Zentrum eines Berichts von Border Forensics. Die Rechercheagentur hat den Tod von Nzoy während der letzten zwei Jahre akribisch untersucht und den Bericht am Montag gemeinsam mit der «Unabhängigen Kommission zur Aufklärung der Wahrheit über den Tod von Roger Nzoy Wilhelm» vorgestellt. Darin kommt sie zum Schluss: «Nzoy hatte im Moment, als der Polizist zum ersten Mal auf ihn geschossen hat, mit grösster Wahrscheinlichkeit kein Messer in der Hand.»

Wenige Sekunden bis zum Schuss

Das Rechercheteam hat mittels 3D-Analyse die einzig existente Videoaufnahme des Moments ausgewertet, auf der beide Hände von Nzoy zu sehen sind, wenn auch unscharf verpixelt. Das Video wurde von einem Gebäude mit Blick auf den Bahnhof aus aufgenommen. «Wir haben die Grösse der Videopixel in der realen Welt und dann die Grösse von Nzoys Händen berechnet», sagt Elio Panese von Border Forensics. «In Kombination mit der Analyse seiner Handbewegungen kommen wir zum Schluss, dass seine Hände offen waren und dass es daher höchst unwahrscheinlich ist, dass er einen Gegenstand wie ein Messer halten konnte.»

Border Forensics hält auf Grundlage dieser Erkenntnisse nur eine Hypothese für plausibel: Nzoy hat das Messer zwar noch in der Hand gehalten, als er sich verwirrt auf den Gleisen aufhielt. Doch in dem Moment, als er von dort auf den Bahnsteig gesprungen und auf die eben eingetroffenen Polizist:innen zugerannt ist, muss er es in der Hosentasche oder im Rucksack verstaut haben. Nachdem Nzoy, getroffen vom ersten Schuss, kurz zu Boden ging, hat er es wohl wieder in die Hand genommen.

Der Polizeieinsatz in Morges eskalierte enorm schnell: Nur wenige Sekunden vergingen zwischen dem Eintreffen der Polizisten und der Schussabgabe auf den 37-Jährigen. Hatte Nzoy zu jenem Zeitpunkt tatsächlich kein Messer in der Hand, bringt dies die Notwehrthese der Verteidigung arg in Bedrängnis. Doch der Bericht fordert diese auch über die Messerfrage hinaus heraus: Er stellt grundsätzlich infrage, dass Nzoy in angriffiger Absicht auf die Polizist:innen zugerannt sei. Vielmehr lege die Auswertung seiner Schritte und der Bewegungen des schiessenden Polizisten nahe, dass Nzoy versucht habe, an diesem vorbei aus der bedrohlichen Einkreisung durch die vier Polizist:innen zu fliehen. Paese sagt: «Der Polizist hat sich ihm aber in den Laufweg gestellt.»

«Andere Länder sind weiter»

Die Behörden stehen ohnehin schon unter Druck. Im Mai hat das Waadtländer Kantonsgericht den zuständigen Staatsanwalt Laurent Maye angewiesen, das Verfahren gegen den Schützen wiederaufzunehmen. Maye hatte es im November 2024 eingestellt. Das Kantonsgericht beauftragt die Staatsanwaltschaft unter anderem, von unabhängigen Expert:innen einen Bericht erstellen zu lassen. Diese sollen untersuchen, welche anderen Handlungsoptionen der Polizist hatte, ausser zu schiessen.

Die Rekursinstanz bestätigte in ihrem Urteil auch zahlreiche andere vom Anwalt der Opferfamilie bemängelte Ermittlungsversäumnisse, etwa dass einzelne Funksprüche in den Verfahrensakten fehlen. Die Staatsanwaltschaft muss zudem gegen die drei weiteren am Einsatz beteiligten Polizist:innen wegen unterlassener Hilfeleistung ermitteln. Viereinhalb Minuten dauerte es, nachdem Nzoy angeschossen worden war, bis ein zufällig am Bahnhof anwesender Pfleger sich einschaltete. Die Polizist:innen blieben tatenlos.

Vor dem Hintergrund der Enthüllungen zu den rassistischen Whatsapp-Chats der Lausanner Stadtpolizei (vgl. «Keine Einzelfälle») erhält der Fall weitere Brisanz. Claske Dijkema, aus den Niederlanden stammende Geografin, Dozentin für Soziale Arbeit und Mitglied der «Unabhängigen Kommission zur Aufklärung der Wahrheit über den Tod von Roger Nzoy Wilhelm», sagt, die Gleichzeitigkeit der Ereignisse sei schon sehr bezeichnend. «Im Fall Nzoy wurde von der Polizei immer vehement abgestritten, dass der Fall irgendetwas mit strukturellem Rassismus zu tun haben könnte – oder dass dieser bei der Polizei überhaupt existiert. Und nun werden bei der Stadtpolizei Lausanne diese rassistischen Chats publik.»

Sie habe schon lange so etwas erwartet, sagt Dijkema. In Deutschland, Frankreich oder auch den Niederlanden seien ähnliche Chats schliesslich schon längst öffentlich geworden. Gerade die Niederlande bemühten sich aber heute sehr um die Aufarbeitung. «Die Schweiz muss sich nun endlich dem Thema des strukturellen Rassismus stellen, in der Polizei und darüber hinaus.»