Föderalismus: Der Ruf der Städte
In der Schweiz leben bereits drei Viertel der Bevölkerung in Städten oder Agglomerationen. Dennoch werden die Anliegen und Herausforderungen der Städte in der Bundespolitik vernachlässigt.
Erst Ende des letzten Jahrhunderts, nachdem die Probleme in den urbanen Zentren immer mehr zugenommen hatten, erkämpften der Städte- und der Gemeindeverband die Aufnahme von Artikel 50 in die revidierte Bundesverfassung von 2000. Dieser Artikel verpflichtet den Bund, Rücksicht auf die Bedürfnisse von Gemeinden und auf die «besondere Situation der Städte und Agglomerationen sowie der Berggebiete» zu nehmen.
Diesen Monat feiert der Artikel 50 sein 25-jähriges Bestehen. Konkret zu bejubeln gibt es jedoch wenig. Die Tendenz des Bundesrats, Gemeinden in ihrer Autonomie zu verletzen, hat sich in den letzten Jahren gar akzentuiert. Meist sind es fortschrittliche Entscheide der Stimmbevölkerung in städtischen Gemeinden oder Stadtkantonen, die Motionär:innen aus dem Bundesparlament rückgängig machen wollen – wie etwa jene für einen gesetzlichen Mindestlohn in Zürich, Winterthur und Luzern. Und wenn es nicht gerade der Bund ist, der gesellschaftliche Fortschritte in Städten zu verhindern sucht, sind es nicht selten Kantone.
Im Bundeshaus lieferte Verkehrsminister Albert Rösti letzte Woche auf dem beliebten Verordnungsweg das jüngste Exempel zentralistischer Demontage – diesmal, um die Einführung von Tempo-30-Limits auf Hauptverkehrsachsen in Städten zu erschweren. Den Steilpass dafür lieferte Peter Schilliger, FDP-Nationalrat und Verwaltungsratsmitglied des Touring Clubs Schweiz. Seine von beiden Kammern angenommene Motion verlangte, dass das Tempo-30-Limit landesweit nur noch auf Siedlungsstrassen möglich sein soll.
Immerhin: Laut Bundesrat soll diese Tempobegrenzung auf Hauptverkehrsstrassen nicht generell verboten werden – falls nachgewiesen werden kann, dass daraus kein unerwünschter Ausweichverkehr durch Quartiere erfolgt, soll sie weiterhin möglich sein.
Wie aber kommt es, dass 25 Jahre nach Einführung von Artikel 50 die Lösungsvorschläge urbaner Gebiete von Bundesbern immer wieder derart torpediert werden? Eine Erklärung lässt sich vielleicht in der Antwort auf die Frage finden, in was für Gemeinden viele bürgerliche Parlamentarier:innen ihren Wohnsitz haben. So etwa leben von den 33 bürgerlichen Ständeratsmitgliedern 24 in (überwiegend steuergünstigen) Dörfern, 7 in Kleinstädten – und nur gerade je eine:r in einer mittelgrossen und einer grossen Stadt.
Entsprechend realitätsfremd, provinziell und unsensibel gerät ihr Blick auf Städte. Das zeigt sich auch in der Tempo-30-Frage. Dabei drückt mit Peter Schilliger ausgerechnet ein Nationalrat aus dem Kanton Luzern derart rücksichtslos aufs Gaspedal – jenem Kanton notabene, der untersuchen liess, wie sich Tempo 30 auf Hauptstrassen auswirkt: Auf der 25 Kilometer langen Strecke von Hitzkirch (Schilligers Wohnsitz!) nach Luzern betrug der Zeitverlust zu Stosszeiten gerade einmal ein Minütchen. Der hohe Gewinn für diesen tiefen Preis: weniger Unfälle, mehr Lebensqualität.
Die Angriffswut auf die Autonomie der Städte wirft ein schlechtes Licht auf die demokratiepolitische und föderalistische Verfasstheit dieses Landes. Das 25-Jahr-Jubiläum von Artikel 50 könnte gerade auch im Hinblick auf die «10-Millionen-Schweiz» der Startschuss für eine Diskussion darüber sein, wie sich auf nationaler Ebene das wachsende Ungleichgewicht zwischen ländlich situierten Volksvertreter:innen und urbaner Bevölkerung korrigieren liesse.
Ob es nun um das Stimm- und Wahlrecht für Ausländer:innen geht (wie zum Beispiel in den Gemeinden der Kantone Neuenburg und Jura) oder um bessere Wohn- und Klimaschutzmassnahmen (wie etwa in Basel oder Zürich): Oft sind es Städte, die neue gesellschaftliche Praktiken lancieren, erproben und dabei Erfahrungen sammeln, die sich später für die Menschen im ganzen Land als wertvoll erweisen könnten.