Mindestlöhne: «Fortschritte werden radikal unterbunden»

Nr. 15 –

Ausgerechnet einer Motion eines Ständerats folgend, soll die Autonomie der Kantone bei Mindestlöhnen beschnitten werden. Das sei ein krasser Angriff auf den Föderalismus, findet Politologin Rahel Freiburghaus.

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Portraitfoto von Rahel Freiburghaus
«Im Schweizer Kontext würde ich sagen, dass das Verhältnis der Linken zum Föderalismus stets ambivalent war»: Rahel Freiburghaus.

WOZ: Frau Freiburghaus, vergangene Woche hat die Wirtschaftskommission des Nationalrats grünes Licht für eine Gesetzesänderung gegeben, die kantonale Mindestlöhne untergraben würde. Da hebelt Bundesbern also kantonale Gesetze aus, die mittels Volksabstimmungen eingeführt wurden. Eine Zäsur?

Rahel Freiburghaus: Das kann man sicher so nennen. Was neu ist: dass der Bund etwas übersteuern will, wofür sich die Kantone entschieden haben. Auf einer tieferen politischen Ebene kennen wir bereits Beispiele, in denen eine Gemeinde in einem Bereich vorprescht und ihr auf kantonaler Ebene der Riegel geschoben wird.

WOZ: In der Romandie, wo drei von fünf Kantonen liegen, die einen Mindestlohn kennen, empfindet man das als Angriff auf den Föderalismus. Können Sie das nachvollziehen?

Rahel Freiburghaus: Absolut. Föderalismus hat zwei Grundpfeiler: Autonomie und Mitsprache. Beides wird mit dem aktuellen Vorhaben angegriffen. Was die Autonomie angeht: Es soll eine Entscheidung des Kantons gekippt werden, die ganz offensichtlich dem Wunsch einer Bevölkerungsmehrheit entspricht. Das andere ist die Mitsprache der Kantone in der Bundespolitik: Wenn wir hier einen Ständerat haben, der einfach Parteipolitik macht und regionalen oder kantonalen Interessen kein Gewicht mehr gibt, dann ist auch dieser Pfeiler angegriffen.

Die Motion Ettlin

Die in allgemein verbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen (GAV) festgelegten Mindestlöhne sollen Vorrang vor kantonalen Mindestlöhnen haben: So forderte es Mitte-Ständerät Erich Ettlin in einer Motion, die von den Räten angenommen wurde. Und so sieht es ein Gesetzesentwurf vor, dem die Wirtschaftskommission des Nationalrats vergangene Woche zustimmte. Von den fünf Kantonen mit Mindestlohn betrifft dies Genf und Neuenburg direkt – die Gesetze im Tessin, im Jura und in Basel-Stadt sehen bereits einen grundsätzlichen Vorrang der GAV-Bestimmungen vor.

Eingereicht habe Ettlin seine Motion übrigens, nachdem Vertreter der Gastro- und der Coiffeurbranche auf ihn zugekommen seien, wie er der «Republik» berichtete.

WOZ: Sind wir heute in dieser Situation?

Rahel Freiburghaus: Seit 2014 die elektronische Abstimmungsanlage im Ständerat eingeführt wurde, nahm der Parteiendruck stark zu, genauso wie die Polarisierung. Wenn die Kantonsbehörden keine direkte Repräsentation im Gesetzgebungsprozess des Bundes haben, können sie sich auch nicht wehren, wenn das Bundesparlament über solche Vorlagen verhandelt.

WOZ: Ironischerweise geht die Vorlage ausgerechnet auf die Motion eines Ständerats zurück – die des Obwaldner Mitte-Politikers Erich Ettlin (vgl. «Die Motion Ettlin»). Ein Widerspruch?

Rahel Freiburghaus: Es wäre ein Widerspruch, wenn man die Sache aus der Logik heraus betrachtet, nach der der Ständerat 1848 geschaffen wurde. Er war ursprünglich die Idee der im Sonderbundskrieg unterlegenen Innerschweizer Kantone. Die Gewinner wollten damals ein starkes nationales Parlament schaffen und überlegten sogar, die Kantone als Wahlkreise aufzuheben. Das war aber nicht mehrheitsfähig. Die Kompromisslösung eines Zweikammersystems kam von den Verlierern. In den Anfängen des Bundesstaats war die zweite Kammer noch viel stärker eine Form direkter kantonaler Mitwirkung, weil es vielerorts die kantonalen Regierungsbehörden selbst waren, die Abgeordnete delegierten. Das ist mit der Zeit ganz weggebrochen.

WOZ: Trotzdem repräsentiert der Ständerat die Kantone …

Rahel Freiburghaus: Ja, wenn man die Ständeratsmitglieder direkt fragt, wen sie vertreten, sagen die meisten: Die Einwohner:innen ihres Kantons. Wenn man sich aber anschaut, wie häufig im Rat kantonsfreundliche Vorstösse gemacht werden oder wie häufig kantonsfreundlich abgestimmt wird, spielt der Kanton im Sinne von Positionen der Kantonsregierungen heute praktisch keine Rolle mehr. Der Ständerat ist nur noch in seinem symbolischen Selbstverständnis der Hort der Kantone. Darum löst sich der Widerspruch auf.

WOZ: Wenn die Politiker:innen im Ständerat eher parteipolitische Interessen vertreten denn föderalistische, ist die zweite Kammer dann nicht überflüssig?

Rahel Freiburghaus: In Bezug auf den Föderalismus würde ich sagen, ja. Eine andere Funktion des Rats, die bei der Bundesstaatsgründung intendiert war, ist die einer «chambre de réflexion» oder einer «Mässigung der Gewalten». Wenn der Rat eine Art Gegengewicht sein soll, das mal in die eine oder andere Richtung fällt, kann man ihm diese Funktion durchaus zugestehen.

WOZ: In der Tendenz fällt er schon oft auf die Seite der Bürgerlichen, der Ständerat ist bekanntermassen konservativ. Gleichzeitig sind es auch in erster Linie die Bürgerlichen, die sich die Verteidigung des Föderalismus auf die Fahne schreiben. Was ist mit der Linken?

Rahel Freiburghaus: Eine spannende Frage. In vielen Bereichen, in denen die Kantone grosse Autonomie geniessen, würde man aus einer linken Warte wohl zuerst die Ungleichheit darin sehen. Nehmen wir mal die Bildung: Ein reicher Kanton kann hier seine Autonomie positiv nutzen, etwa mit zahlreichen Förderangeboten. Gleichzeitig haben nicht alle Kinder die gleichen Chancen, je nachdem, in welchem Kanton sie zur Schule gehen. Dann gibt es auch dieses historische Bild zentralistischer sozialistischer Staaten, wobei man natürlich nicht alle über einen Kamm scheren sollte: In Jugoslawien hatte man im Föderalismus etwas Sozialistisches erkannt.

Rahel Freiburghaus: Im Schweizer Kontext würde ich sagen, dass das Verhältnis der Linken zum Föderalismus stets ambivalent war. Das hat unterschiedliche Gründe, allen voran die Mehrheitsverhältnisse in den Kantonen. Wer Regierungsrat werden will, muss eine Majorzwahl gewinnen. Darum sind dort Mitte und FDP mit Abstand am besten vertreten. Die kantonale Ebene war für die Linke immer ein hartes Pflaster.

WOZ: Ändert sich da gerade etwas?

Rahel Freiburghaus: Irgendwann haben linke Parteien verstanden: Auf kantonaler und insbesondere auf Gemeindeebene ist für uns etwas zu holen. Hier haben wir Handlungsspielräume, die wir auf Bundesebene nie und nimmer hätten. Die Demokrat:innen in den USA haben dieses Potenzial schon lange entdeckt. Im Kontext der Polarisierung, die auf nationaler Ebene zu einer Blockierung in vielen wichtigen Fragen führte, merkten sie, dass sie in kleineren Einheiten etwas bewirken konnten. In der Schweiz waren die sich wandelnden Mehrheitsverhältnisse in den Städten sicher die Voraussetzung dafür, dass die Linke die Spielräume des Föderalismus besser nutzen konnte.

WOZ: Wann hat dieser Wandel stattgefunden?

Rahel Freiburghaus: Ab den 1990er Jahren, als die grossen Städte zunehmend links wurden. Abgesehen von Lugano haben mittlerweile alle zehn grössten Schweizer Städte eine linke Mehrheit.

WOZ: Kantone und Kommunen gelten als Laboratorien progressiver Politik: Neben dem Mindestlohn führten verschiedene Kantone und Gemeinden das Ausländer:innenstimmrecht ein. Daneben wurden in jüngster Zeit zahlreiche innovative Gesetze und Regelungen erlassen, darunter etwa der Menstruationsurlaub für Angestellte der Stadt Fribourg oder Gratis-ÖV für unter 25-Jährige in Genf. Wie erklärt sich diese Zunahme?

Rahel Freiburghaus: Das liegt zum einen sicher an der Positives-Feedback-Schlaufe, also daran, dass die Wähler:innen in den Städten progressive Politik honorieren, zum anderen auch an der zunehmenden Vernetzung, ein Beispiel ist das Netzwerk Mindestlohn. Wenn man ein Mustergesetz hat, zum Beispiel eine Mindestlohnvorlage in einem städtischen Kontext, kann man diese andernorts einfach adaptieren.

WOZ: Während die Linke zunehmend das Potenzial des Föderalismus nutzt, sind einige der progressiven lokalen Vorlagen unter Beschuss geraten: Nicht nur im Fall der Mindestlöhne, auch bei Tempo 30 will das Parlament eingreifen – gar in die Gemeindeautonomie.

Rahel Freiburghaus: Vielleicht kommt der direkte Sprung auf die nationale Ebene auch daher, dass die bürgerliche Seite gemerkt hat, dass die Städte vorangehen, und nun versucht, dieses Fortschreiten radikal zu unterbinden. Dabei ist das eigentlich ein bürgerliches Urargument für den Föderalismus: Best Practice, voneinander lernen, Neuerungen zuerst im Kleinen und ohne Risiken erproben. Es ist krass, wie dieses Prinzip gerade auf den Kopf gestellt wird.

WOZ: Im Fall des Mindestlohns sind es die Kantone der Romandie, die besonders betroffen sind. Ist das eher ein Föderalismus- oder ein Röstigrabenproblem? Oder ist das eigentlich dasselbe?

Rahel Freiburghaus: Eine Grundironie unserer Föderalismusarchitektur ist, dass sie Minderheiten schützen soll, aber ausgerechnet Sprachminderheiten nie geschützt waren. Die Kantone der Romandie haben ihre Standesstimmen, aber die reichen nicht, um gegen eine deutschschweizerische Mehrheit anzukommen. Wenn wir uns die bisherigen zehn Abstimmungen anschauen, in denen das Volk Ja sagte, die Stände aber Nein, unterlag immer die Romandie. Hier liegt ein Grundkonstruktionsfehler unseres föderalen Systems. Es erstaunt daher nicht, dass die Kantone der Romandie auch die sind, die am vehementesten Kantonslobbying betreiben.

WOZ: Ist das so?

Rahel Freiburghaus: Ja. Sie müssen immer diesen Geburts- und Konstruktionsfehler der numerischen Unterlegenheit ausgleichen. Sie waren die ersten, die professionelle Kantonslobbyist:innen finanzierten, sie haben sich in der Westschweizer Regierungskonferenz zusammengeschlossen. Dieser Konflikt wird als Sprachgegensatz ausgetragen, weil er nicht über die föderalen Konfliktlösungsmechanismen ausgetragen werden kann.

WOZ: Ist die Schweiz in fünfzig Jahren noch föderalistisch?

Rahel Freiburghaus: Da kann ich keine Prognose abgeben.

Rahel Freiburghaus (30) ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet aktuell noch am Lehrstuhl für Schweizer Politik an der Universität Bern, bevor sie im August eine Assistenzprofessur an der Universität Lausanne antritt. Der Föderalismus ist eines ihrer zentralen Forschungsgebiete, womit sie gemäss eigener Aussage eine Ausnahmeerscheinung ist: Es sei sonst eher ein Altherrenthema.