Proteste in Indonesien: Chronik einer Eskalation

Nr. 37 –

Seit Wochen demonstrieren Hunderttausende gegen Elitenarroganz, Krise und Demokratieabbau.

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junge Meschen an den Protesten in Jakarta
Jakarta, 28. August: Vertreter:innen der Generation Z führen die Proteste an …

Am Donnerstag, dem 28. August, verlässt der 21-jährige Affan Kurniawan morgens das kleine Mietshaus in Jakarta, das er mit sieben Familienmitgliedern teilt, um seine Schicht als Motorradtaxifahrer anzutreten.

Heftige Proteste erschüttern an diesem Tag die indonesische Hauptstadt. Am Montag war publik geworden, dass die finanzielle Entschädigung für Abgeordnete auf rund 100 Millionen Rupiah (fast 5000 Franken) pro Monat verdoppelt wurde, während der Mindestlohn in Jakarta umgerechnet weniger als 300 Franken beträgt.

Die Wirtschaft wächst schleppend, die Arbeitslosigkeit nimmt zu, Massenentlassungen häufen sich, eine Million Universitäts­abgänger:innen finden keine Anstellung. Immer mehr Indonesier:innen werden in die Plattformwirtschaft gedrängt, wo sie für Firmen wie den indonesischen Konzern Gojek als Kurierinnen und Taxifahrer arbeiten.

So wie Affan Kurniawan, der mit seinem Motorrad auf den Strassen Jakartas unterwegs ist, als er von einem Einsatzwagen der Polizei gerammt wird. Kurniawan stirbt, und die Proteste eskalieren. In sozialen Medien kursieren bald Videos vom tödlichen Unfall; rasend schnell verbreiten sich Hashtags, Memes und Codes, etwa das Bild einer Frau, die sich der Polizei in den Weg stellt. Ihr pinker Hidschab wird zum Symbol des Widerstands. Ebenso die Farbe Grün, die Farbe des Motorradhelms von Kurniawan.

Polizei an den Protesten in Jakarta
… auf dem Weg zum Parlamentsgebäude stellt sich ihnen die Polizei in den Weg.

Gut zwei Dutzend Forderungen

Seit Indonesiens Präsident Prabowo Subianto vor rund einem Jahr sein Amt antrat, hat er den Einfluss der Armee innerhalb des Staates stark ausgebaut und mehrere Militärs in wichtige Ämter befördert. Wirtschaftspolitisch macht er dort weiter, wo sein Vorgänger Joko Widodo aufgehört hat. Widodos zwei Amtszeiten standen ganz im Zeichen des Wirtschaftswachstums zugunsten der Grosskonzerne – auf Kosten der Arbeiter:innenrechte, der indigenen Bevölkerung und der Umwelt. Auf geschätzt 40 000 Quadratkilometern Wald- und Landwirtschaftsfläche – fast so gross wie die Schweiz – wurden in den zehn Jahren seiner Präsidentschaft Palmölplantagen angelegt.

Umstritten war der ehemalige Offizier und frühere Verteidigungsminister Prabowo – bekannt ist er unter seinem Vornamen – schon lange vor seinem Amtsantritt, etwa weil er im Kontext der Proteste, die 1998 den Langzeitdiktator Suharto zu Fall brachten, in dessen Auftrag an der Entführung von Demonstrant:innen beteiligt gewesen sein soll.

Dieser Aufstand vor 27 Jahren ist Bezugspunkt der heutigen Proteste, den seither grössten. Auf die Strasse gehen Studenten, Arbeiterinnen und Beschäftigte von Kurierdiensten bis zu Büroangestellten aus dem Wirtschaftsviertel von Jakarta. Nutzer:innen der virtuellen Welt Roblox haben eine digitale Version des Parlamentsgebäudes generiert, vor dem sie jetzt online demonstrieren.

«Damals vor der Jahrtausendwende war die Hauptursache des Aufstands eine Wirtschaftskrise, die das Regime schliesslich zu Fall brachte», sagt Amalinda Savirani, Politologin und Professorin an der Gadjah-Mada-Universität in Yogyakarta, der grössten des Landes. Und auch bei den aktuellen Protesten spiele die wirtschaftliche Situation der durchschnittlichen Bürger:innen eine entscheidende Rolle, «allerdings vor allem im Kontrast zum Lifestyle der Parlamentarier:innen und wirtschaftlichen Eliten». Befeuert werde der Unmut durch Steuererhöhungen, zunehmende Ungleichheit und zur Schau gestellte Arroganz.

Angeführt werden die Demonstrationen erstmals von Vertreter:innen der Generation Z. Influencerinnen, Musiker und auch Vertreter:innen der Diaspora haben sich gemeinsam mit NGOs, Expertinnen und Aktivisten zum Kollektiv «17 + 8 Forderungen» zusammengeschlossen. Andhyta Utami ist Mitgründerin der Think Policy Society, einer Art Thinktank für Klimafragen, Inklusionspolitik und digitale Transformation, der sich an diesem Kollektiv beteiligt. In der Unabhängigkeitsbewegung in den vierziger Jahren seien einst Mediziner:innen tonangebend gewesen, in den neunziger Jahren Student:innen. «Jetzt sind es Influencerinnen und Künstler», sagt Andhyta Utami, «die aber ebenfalls einer Bildungsschicht angehören, die sich Idealismus leisten kann.»

Siebzehn der Forderungen, die das Kollektiv an die Regierung richtet, versteht es als dringend, als Minimalforderungen. Dazu zählen eine unabhängige Untersuchung des Todes von Kurniawan, die Freilassung von inhaftierten Demonstrant:innen, das Ende der Polizeigewalt, die Einfrierung der Löhne von Parlamentarier:innen auf dem bisherigen Niveau sowie Notfallmassnahmen zur Verhinderung von Massenentlassungen. Acht weitere Forderungen sollen erst nächstes Jahr umgesetzt werden, etwa eine Reform des Parteiensystems und eine gerechtere Steuerpolitik.

Mit Stiefeln malträtiert

Nach Affan Kurniawans Tod weiten sich die Proteste auf 32 von 38 Provinzen aus. Manche der Demonstrationen bleiben friedlich, andere arten aus. «Dabei hätte die Regierung das mit einer raschen Reaktion verhindern können», sagt Andhyta Utami.

Am 30. August, zwei Tage nach Affan Kurniawans Tod, beginnen Demonstrant:innen, Häuser von Abgeordneten zu überfallen und zu plündern, etwa das Anwesen des Nationalisten Ahmad Sahroni, der unlängst jene, die eine Absetzung des Parlaments forderten, als «die dümmsten Menschen der Welt» bezeichnete. In Yogyakarta, seit 1998 immer wieder Epizentrum nationaler Proteste, setzt ein Mob ein Polizeigebäude in Brand.

Mit dabei ist der Student Rheza Sendy Pratama. Der 21-Jährige wird schwer verletzt und stirbt kurz darauf im Spital. Laut seiner Familie ist sein Körper von Stiefeltritten malträtiert. Die Polizei streitet trotzdem jegliche Verantwortung für seinen Tod ab. Bewaffnete Soldaten übernehmen mit Panzern die Stadt. Schulen, Restaurants und Läden müssen schliessen.

Gemäss der NGO Legal Aid Foundation wurden seit Beginn der Proteste mehr als 3000 Personen verhaftet. Die Polizei geht gezielt gegen Schlüsselfiguren vor, sie hat etwa den Direktor der Lokataru Foundation, einer prominenten Menschenrechtsorganisation, verhaftet. Er soll Jugendliche zur Teilnahme an einer gewalttätigen Demonstration verleitet haben. Die Anklage stützt sich auf das Jugendschutzgesetz. Die Organisation weist die Vorwürfe entschieden zurück und bezeichnet die Verhaftung ihres Direktors als Teil einer Abschreckungstaktik und politisch motiviert.

Die Verfassungsrechtlerin Bivitri Susanti sagt, dass die Verhaftung sie zutiefst beunruhige. «Die Rechtsstaatlichkeit ist damit praktisch am Ende», so Susanti. «Stattdessen wird das Recht zum Schutzschild der Mächtigen.» Prabowo wolle jegliche soziale Unruhe verhindern und die Zivilgesellschaft zurückbinden, er kümmere sich nur um Sicherheit und Stabilität, sagt sie. «Er ist eben ein Militär.»

Feindbild Anarchismus

Prabowo selbst hat die Proteste in einer Rede am 31. August als «anarchisch» bezeichnet. Sie würden die Stabilität des Landes gefährden, er sprach von Terrorismus und Landesverrat. Vertreter der Polizei machten explizit anarchistische Gruppen verantwortlich.

Dies sei kein neues Narrativ, sagt Ferdhi Putra, Autor eines Buches über die anarchistische Bewegung in Indonesien. Wie der Staat Repression gegen Zivilist:innen anwende, folge historischen Mustern, sagt der Historiker. «So wie Demonstrant:innen früher als Kommunist:innen bezeichnet wurden, nennt man sie jetzt Anarchist:innen.» In den sechziger Jahren verübten die Armee und verschiedene Milizen einen Massenmord an Hunderttausenden Mitgliedern der Kommunistischen Partei sowie an Sympathisant:innen. Wenn die Öffentlichkeit der Regierung jetzt das Narrativ abkaufe, die Anarchist:innen stünden am Anfang der Proteste, könne es für diese vielleicht bald gefährlich werden.

In seiner Rede, flankiert von den Vorsitzenden mehrerer Parteien, äusserte sich Präsident Prabowo auch zu den Forderungen von «17 + 8». Die Parteien hätten sich darauf geeinigt, einige Abgeordnete, die wegen Äusserungen zu den Protesten untragbar geworden seien, zu suspendieren, darunter auch Ahmad Sahroni. Einige Tage später, am 4. September, beschloss das Parlament, die angekündigte Erhöhung der Parlamentsentschädigungen zurückzuziehen und gar weitere Kürzungen vorzunehmen sowie sich zu mehr Transparenz zu verpflichten.

Unerfüllt bleibt die Forderung nach einer Aufarbeitung des Todes der insgesamt zehn Personen, die inzwischen im Kontext der Proteste gestorben sind. Die beiden Polizisten, die mutmasslich für Kurniawans Tod verantwortlich sind, kamen bislang mit einer Rüge davon. Verfassungsrechtlerin Bivitri sagt: «Jegliche Vergehen im Zusammenhang mit Affans Tod müssen strafrechtliche Konsequenzen haben; das ist ein Fall von Mord.»

Indes hat Kurniawans Vater publik gemacht, dass er eine Vielzahl Spenden erhalten habe. Unter anderem hätte ihm Präsident Prabowo ein Haus und die Sprecherin des Parlaments, Puan Maharani, ein Motorrad geschenkt. Aber kein Geldbetrag könne ihm seinen Sohn ersetzen, sagt er dazu.

Neue Demonstrationen sind bereits angekündigt. Nicht nur für die Erfüllung der noch offenen dringenden Forderungen, sondern auch im Hinblick auf 45 weitere Punkte, die das Kollektiv «17 + 8» derzeit erarbeitet.

Febriana Firdaus (42) ist indonesische Dokumentarfilmerin und Investigativjournalistin. Sie berichtete unter anderem für den «Guardian» und Al Jazeera, vor allem über Minderheitenrechte.

Aus dem Englischen von Lukas Tobler.