Türkei: Nicht mal ein Anschein von Demokratie
Recep Tayyip Erdoğan macht Jagd auf die Führungsfiguren der türkischen Sozialdemokratie.
Es ist eine feindliche Übernahme, ein juristischer Putsch – und ein weiterer historischer Moment in der Türkei: Die Istanbuler Zentrale der sozialdemokratischen CHP, die zugleich auch als Parteizentrale für das ganze Land dient, ist am Sonntag einem von der Regierung ernannten Treuhänder unterstellt worden. Zuvor hatte ein Gericht in Istanbul die Führung der Istanbuler CHP, dazu gehört auch Provinzparteichef Özgür Çeli̇k, abgesetzt und die Wahlen auf dem Parteitag der CHP im Oktober 2023 für nichtig erklärt.
Seitdem riegeln Polizisten das Gebäude ab. Trotz eines Demonstrationsverbotes versuchten Hunderte in den vergangenen Tagen immer wieder, die Absperrungen zu durchbrechen. Die Regierung will inzwischen nicht einmal mehr den Anschein von Demokratie wahren. Während Polizist:innen in die Oppositionszentrale eindrangen, zeigte der regierungstreue Sender CNN Türk am Sonntag eine Diskussion darüber, ob in Chicago nun ein Bürgerkrieg ausbreche.
Die CHP ist die grösste Oppositionspartei des Landes. Von Mustafa Kemal Atatürk ins Leben gerufen, verkörpert sie für Türk:innen die kemalistischen Prinzipien von Säkularismus und Nationalismus. Diese Prinzipien sind eng mit der modernen Türkei verbunden, deshalb galt die Partei jahrzehntelang als sakrosankt. Seit März 2025 sitzt nun aber der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu wegen Korruptionsermittlungen in Untersuchungshaft. Der äusserst populäre Politiker hatte die rund zwei Jahrzehnte andauernde AKP-Herrschaft in Istanbul beendet. Ausserdem ernannte ihn die CHP zu ihrem Präsidentschaftskandidaten. Er gilt als stärkster Herausforderer Recep Tayyip Erdoğans.
Unter normalen Umständen würden die beiden Politiker bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2028 gegeneinander antreten. Deshalb haben Erdoğans Gefolgsleute eine Hexenjagd auf İmamoğlu und seine Genoss:innen begonnen. Nach dessen Festnahme wurden Klagen wegen angeblicher Unregelmässigkeiten beim Parteitag im Herbst 2023 eingereicht. Unter anderem geht es um angeblichen Stimmenkauf, der den Aufstieg der derzeitigen Parteiführung um Özgür Çeli̇k ermöglicht haben soll. Zudem erfolgten weitere Korruptionsermittlungen, die Staatsanwaltschaften liessen dreizehn weitere Bürgermeister suspendieren, darunter jene von Grossstädten wie Antalya und Izmir. Einige von ihnen sitzen in Untersuchungshaft.
Zwar setzt sich die CHP zur Wehr, ruft zu Demonstrationen auf, doch abseits der Strasse sieht es schlecht für sie aus. Juristisch können die Sozialdemokrat:innen dem staatstreu designten Justizapparat nichts entgegensetzen. In den nächsten Tagen stehen weitere wichtige Termine an. Am Freitag soll ein Gericht darüber entscheiden, ob İmamoğlu sein Universitätsdiplom wegen angeblicher Ungültigkeit aberkannt wird. Sollte das geschehen, kann er nicht mehr zu den Präsidentschaftswahlen antreten – denn ein Uniabschluss ist zwingend, will man Präsident werden.
Voraussichtlich am Montag wird ein Gericht in Ankara entscheiden, ob auch CHP-Chef Özgür Özel durch einen Treuhänder ersetzt werden soll. Özel gilt als zweitaussichtsreichster Konkurrent von Erdoğan. Er sei unrechtmässig zum Parteichef ernannt worden, lautet der Vorwurf. Dann, so wird gemutmasst, könnte Kemal Kılıçdaroğlu auf Özel folgen. Er war vor Özel rund dreizehn Jahre CHP-Chef und verlor jede Wahl gegen Erdoğan – sollte er übernehmen, dann muss Erdoğan kaum mehr einen Wahlkampf führen, so sicher wäre sein Sieg gegen den farblosen Kılıçdaroğlu.
Trotz dieser durchsichtigen juristischen Schachzüge der Staatsgewalt bekommt die CHP international kaum Unterstützung. Die Vertreter:innen demokratischer Staaten schweigen, weil sie die Türkei als migrations- und weltpolitischen Partner brauchen. Auch der Partei politisch verbundene Kräfte im Ausland bleiben stumm. Die CHP steht alleine da.