Kommunalwahlen in der Türkei: Ein anderes Land scheint möglich
Der Opposition ist am Sonntag ein historischer Sieg gelungen, der Präsident Erdoğans politisches Projekt infrage stellt: Dessen AKP verliert in den Metropolen genauso wie auf dem Land.
Zwei Jahrzehnte lang hat er die Türkei fast nach Belieben zu lenken vermocht, doch am Sonntag hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan bei den Kommunalwahlen ein Fiasko erlebt. Die sozialdemokratische Oppositionspartei CHP erzielte landesweit Spitzenergebnisse und überholte, wenn auch knapp, Erdoğans religiös-konservative AKP.
Versprechen nicht gehalten
Ihren grössten Triumph feiert die CHP in der Millionenstadt Istanbul, wo Ekrem Imamoğlu als Bürgermeister wiedergewählt wurde. Spektakulär erfolgreich war die Partei, die einst von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk ins Leben gerufen wurde, auch in der Hauptstadt Ankara und in den Metropolen Izmir und Antalya sowie im anatolischen Hinterland. Selbst in konservativen Städten wie Adıyaman, Afyonkarahisar und Zonguldak, wo die AKP lange geherrscht hat, feierte die CHP Wahlsiege. Und dies trotz der Dauerpropaganda, die auf den grösstenteils von Erdoğans Leuten gesteuerten Medienkanälen ausgespielt wurde.
Die Wahlen galten als Gradmesser für Erdoğans Popularität im ganzen Land. Der Präsident selbst wollte vor allem nach fünf Jahren die Kontrolle über Ankara und Istanbul zurückgewinnen. Der damalige Sieg der CHP war bereits ein herber Schlag für Erdoğan, dem damit die Aura des Unbesiegbaren abhandenkam. Im vergangenen Jahr gewann er die Präsidentschaftswahlen bloss noch knapp. Nun hat er am Sonntag endgültig die Quittung für die schlechte Wirtschaftslage und die anhaltend hohe Inflationsrate bekommen, für die er berechtigterweise mitverantwortlich gemacht wird. Auch der Wiederaufbau der im Februar 2023 vom grossen Erdbeben betroffenen Gebiete kommt nur schleppend voran.
Selbst wenn Erdoğans Name nicht auf dem Wahlzettel stand, so waren diese Kommunalwahlen doch auch ein Duell zwischen dem Staatspräsidenten und Istanbuls Bürgermeister Ekrem Imamoğlu. Erdoğans AKP-Kandidat Murat Kurum, ein blasser Technokrat, machte deutlich weniger Stimmen als der Amtsinhaber. Dieser schaffte es, auch konservative Wähler:innen zu überzeugen, indem er sich als gläubigen Muslim präsentierte. Istanbuls kurdische Wahlbevölkerung zog Imamoğlu offenbar auch dem Kandidierendenduo der neugegründeten prokurdischen Partei DEM vor, das lediglich zwei Prozent der Stimmen erreichte.
Der nächste Präsident?
Das Bürgermeisteramt in der Bosporus-Metropole hat hohen symbolischen Wert. Wer Istanbul regiere, regiere die Türkei, heisst es oft. Auch Erdoğan schaffte dort den politischen Durchbruch, als er 1994 zum Bürgermeister gewählt wurde. Ende März sagte er an einer Wahlkampfveranstaltung für seinen Kandidaten: «Dies ist die Stadt, der ich mein Leben gewidmet habe und der ich meinen letzten Atemzug widmen werde.» Die Niederlage vom Sonntag stellt nun seine Autorität infrage.
Imamoğlus Position hingegen ist gestärkt: Er gilt schon heute als Favorit für die nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2028. Vor jubelnden Anhänger:innen sagte er am Sonntag: «Der 31. März 2024 ist der Tag, an dem die demokratische Erosion endet und sich die Demokratie zu erholen beginnt.» Erdoğan räumte seine Niederlage ein. Das Volk habe eine Botschaft übermittelt, die seine Partei durch «mutige» Selbstkritik analysieren werde, versprach er.
Vor wenigen Wochen hat Erdoğan angekündigt, keine weitere Wahl mehr zu bestreiten; gemäss Verfassung dürfte er ohnehin keine weitere Amtszeit antreten. Seit er regiert, hat Erdoğan den Staat jedoch laufend autoritärer ausgerichtet und seine Macht kontinuierlich ausgebaut. Der Ankündigung ist also grundsätzlich zu misstrauen. Manche Beobachter:innen befürchten schon lange, dass er versuchen könnte, sich eine Präsidentschaft auf Lebenszeit zu sichern. Der jüngste Sieg der Opposition dürfte ihm dieses Ansinnen erschweren. Und auch wenn Erdoğans politisches Erbe enorm schwer wiegt: Erstmals seit Jahren scheint eine demokratischere Türkei in Sichtweite.