Offensive auf Gaza-Stadt: «Der Taxifahrer kam nicht mehr»

Nr. 38 –

Trotz grosser internationaler Kritik marschiert die israelische Armee in Gaza-Stadt ein. Sawsan Al-Ajouri, eine junge Autorin, versucht zu fliehen.

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Sawsan Al-Ajouri meldet sich am Dienstag gegen 15.30 Uhr. Es ist der Tag, an dem Israel die Bodenoffensive in Gaza-Stadt begonnen hat. Sie schreibt über einen Messengerdienst, dass sie mit ihrer Familie seit zwei Stunden an der Nasser-Strasse im Stadtzentrum ausharre. Am Morgen habe der Hausmeister des Gebäudes, in dem sie mit ihrer Familie untergekommen war, einen Anruf des israelischen Militärs erhalten: Das Haus müsse sofort geräumt werden, es stehe mit weiteren Gebäuden in der Nachbarschaft auf der Abschussliste.

Al-Ajouri, 29 Jahre alt, ist Autorin und Dichterin aus dem Norden Gazas. Gelegentlich schreibt sie für die «taz». Sie und ihre Familie sind mittlerweile schon mehrfach vertrieben worden – nun also erneut. Sie habe gewusst, dass der Tag kommen werde, schreibt sie, und schon für drei Tage zuvor ein Taxi bestellt, das sie, ihre Eltern und ihre Brüder nach Deir al-Balah hätte bringen sollen. Die Stadt im Süden liegt nördlich der vom israelischen Militär ausgerufenen «humanitären Zone» al-Mawasi.

Doch der Fahrer kam nicht. Das liege am starken Verkehr. Bisher sei nur eine Strasse für die Flucht nach Süden geöffnet gewesen, entlang der Küste. Diese Route gleicht teils mehr einer Sandpiste als einer Strasse, an ihren Rändern türmt sich manchenorts Geröll. Statt der ursprünglich vereinbarten 1700 Schekel (umgerechnet etwa 400 Franken) verlange der Fahrer nun 3200 Schekel (760 Franken). Doch eine Wahl bleibe der Familie nicht, ihr eigenes Auto sei schon seit einer Weile defekt. Also sässen sie am Strassenrand und warteten, schreibt Al-Ajouri, und schickt später ein Bild: Die Sonne brennt auf eine Schotterpiste herab, sechs Gebäude sind im Hintergrund zu erkennen. Zwei davon sind zerstört, zwei schwer beschädigt, zwei stehen noch.

Internationale Kritik

Im August hatte die israelische Armee die Offensive auf Gaza-Stadt angekündigt und immer häufiger Luftangriffe geflogen. Die Truppen standen seit einiger Zeit in den Aussenbezirken der Metropole. Nun wurde der Grossangriff «Gideon’s Chariots II» gestartet – eine Referenz auf die vorherige Offensive, die, so schrieb es das Militär in einem geleakten Papier, wenig Erfolg gehabt hatte: Lebende Geiseln hatte sie nicht nach Hause holen können; zumeist kämpfte die Armee in Gebieten, die zuvor schon als von der Hamas befreit galten.

In Israel ist die Offensive umstritten: vor allem aus Sorge um die 48 immer noch in Gaza vermissten Geiseln, aber auch aus Mitgefühl mit der palästinensischen Bevölkerung. Die abendlichen Proteste in Städten wie Tel Aviv und Jerusalem scheinen immer mehr Menschen anzuziehen. Auch die militärische Führung scheint sich mit der rechten Regierung von Benjamin Netanjahu nicht einig zu sein: Immer wieder berichteten israelische Medien, dass sich Stabschef Ejal Samir der Offensive entgegenstellte. Auch international gab es erheblichen Widerspruch und Kritik.

Die humanitäre Lage im Gazastreifen ist weiterhin katastrophal. Es mangelt an allem: an Lebensmitteln, an Medikamenten. Hunderttausende Menschen sind aktuell von der Vertreibung aus Gaza-Stadt betroffen; derweil fehlt es an Zelten, Planen, Baustoffen. Und während das israelische Militär betont, in al-Mawasi gäbe es Platz für die Menschen aus dem Norden, berichten lokale Kontakte aus dem Süden, der Ort sei bereits ziemlich überfüllt. Insgesamt zwei Millionen Menschen lebten vor dem Krieg in Gaza. Das Gebiet, auf dem sie nun alle unterkommen sollen, beträgt nicht einmal ein Viertel der Gesamtfläche.

Neuer Uno-Bericht

Am Dienstag veröffentlichte eine Untersuchungskommission des Uno-Menschenrechtsrats einen Bericht, der zum Schluss kommt, dass Israel im Gazastreifen einen Völkermord begeht.

Den Ermittler:innen zufolge erfüllt das Vorgehen der israelischen Behörden und Sicherheitskräfte in Gaza vier der fünf Tatbestände, die in der Völkermordkonvention von 1948 festgehalten sind. Dazu gehören: Tötungen, schwere körperliche und geistige Schädigungen, die Auferlegung von Bedingungen, um die palästinensische Bevölkerung ganz oder teilweise zu vernichten, sowie Massnahmen zur Verhinderung von Geburten.

Ausharren in Gaza-Stadt

Auch Al-Ajouri schreibt, es sei ungewiss, was sie im Süden erwarte. Das Geld in der Familie sei knapp: Ihr Vater habe mit dem Beginn des Krieges seinen Job als Ingenieur verloren. Eine Wohnung im Süden konnten sie bislang nicht finden. «Wir haben nicht mal ein Zelt.»

Gegen 21 Uhr meldet sie sich erneut. «Der Fahrer war nicht ehrlich mit uns», schreibt sie, «er ist nicht mehr gekommen.» Sawsan Al-Ajouri und ihre Familie sind immer noch in Gaza-Stadt. Sie kämen nun bei einer Freundin unter. Die israelische Armee, erklärt sie, sei noch etwas entfernt: Sie selbst befänden sich weiter nahe der Nasser-Strasse, die Armee im Viertel Scheich Radwan. Auf Google Maps beträgt die Distanz etwa 1,5 Kilometer. «Es ist halbwegs ruhig gerade.»

Morgen, hofft Al-Ajouri, soll der Fahrer wirklich kommen und die Familie in eine relative Sicherheit nach Süden bringen. Bis dahin lenkt sie sich mit Erinnerungen ab. «Früher habe ich gerne meinen Spezial-Smoothie getrunken: Kiwi, Banane, Honig, Nüsse und Muskatnuss. Ich bereite ihn für dich zu, wenn ich es aus dem Gazastreifen hinausschaffe.»