Skandalroman: Besser lesen

Nr. 38 –

Vor siebzig Jahren erschien Vladimir Nabokovs «Lolita». In meiner Jugend wurde es eins meiner Lieblingsbücher. Ein halbes Leben später las ich den Roman wieder – und erschrak.

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Illustration von Luigi Olivadoti: zwei Herzen lesen in einem Buch

Ich muss etwa siebzehn gewesen sein, als ich «Lolita» zum ersten Mal las. Vladimir Nabokovs erzählerische Raffinesse zog mich sofort in ihren Bann, sein spielerischer Umgang mit Sprache war eine Offenbarung. Den englischen Zungenbrecher, der ganz am Anfang die Lautfolge Lo-Li-Ta phonetisch nachzeichnet, konnte ich schnell auswendig: «the tip of the tongue taking a trip of three steps down the palate to tap, at three, on the teeth».

Unverschämt unterhaltsam war das Buch auch, dazu kam natürlich das Bewusstsein – besonders verlockend für einen Teenager –, einen «Skandalroman» zu lesen. Auch wenn «Lolita» damals schon längst komfortabel im bürgerlichen Kanon eingebettet war: Der Ruf des Verbotenen wirkte noch nach – schliesslich gehört es zum verschwörerischen Reiz dieses Romans, dass sich der Ich-Erzähler Humbert Humbert gewissermassen als Geheimagent seines verbotenen Begehrens inszeniert.

Mit Büchern ist es aber wie mit dem sprichwörtlichen Fluss: Man kann nicht zweimal in denselben Roman einsteigen. Oder wie die britische Schriftstellerin Ali Smith schreibt: Grosse Literatur ist anpassungsfähig, sie wandelt sich mit uns, während wir uns im Leben wandeln. Dreissig Jahre nach dem ersten Mal, ein halbes Leben später, las ich «Lolita» wieder – und erschrak. Aber nicht über den Roman, sondern über mich selbst.

Von Humbert gesteuert

Zunächst einmal, relativ trivial: ein Befremden darüber, mit wem ich mich bei meiner jugendlichen Lektüre damals identifiziert hatte (und vor allem auch: mit wem nicht). Sicher, man ist diesem Humbert Humbert immer ein Stück weit ausgeliefert, weil er als Ich-Erzähler die Perspektive vorgibt und damit bis zu einem gewissen Grad auch steuert, wie seine Geschichte gelesen wird. Und zugegeben, mir gefielen seine selbstverliebten Allüren, sein gespreizter Ton, sein manipulatives Gehabe. Aber Humbert ist 37 Jahre alt, als er Dolores Haze alias Lolita trifft, sie ist zwölf. Wie kommt es, dass ich mich damals, als etwa siebzehnjähriger Leser, mehr oder weniger selbstverständlich der Perspektive dieses Mannes überliess, der so alt ist, dass er mein Vater hätte sein können?

Wieso identifizierte ich mich nicht mit der jungen Frau, die zum Ende der Romanhandlung so alt ist, wie ich damals war, die mir als Figur biografisch also näher hätte sein müssen? Und was sagt das über meine geschlechterpolitische Prägung?

Oder anders gefragt, nächste Stufe der Irritation und nicht mehr so trivial: Bilde ich mir das ein, oder habe ich damals wirklich über vieles von dem, was Humbert im Buch «seiner» Lolita antut, so nonchalant hinweggelesen? Wie konnte ich mich so bereitwillig auf diese Figur einlassen, dass ich namentlich die Vergewaltigung einer Minderjährigen – immer wieder und von Lolita selber mindestens zweimal auch explizit als Vergewaltigung benannt – womöglich nicht so richtig erfasste, weil der Erzähler diesen Missbrauch im Roman rhetorisch so aufwendig überspielt? Rückblickend ist die Diagnose dafür völlig klar, weil der feministische Diskurs mittlerweile auch einen geläufigen Begriff kennt, der meinen Lesefehler erklärt: internalisierte «rape culture», also kulturelle Normalisierung sexueller Gewalt.

Meister im Herunterspielen

Bessere Leser als ich haben das nicht überlesen – doch das hat sie nicht davon abgehalten, den Kindesmissbrauch im Buch ähnlich eloquent herunterzuspielen, wie das Humbert im Roman tut. Etwa der chilenische Schriftsteller Mario Vargas Llosa, der 1987 einen Aufsatz über «Lolita» schreibt. Das Alter des Mädchens? Nicht so wichtig, findet der spätere Literaturnobelpreisträger damals: Schliesslich, so rechnet Vargas Llosa allen Ernstes vor, sei das Opfer im Buch doch «kaum ein Jahr jünger als Shakespeares Julia».

Ein «Abenteuer» nennt Vargas Llosa das, was Humbert seiner Stieftochter Lolita antut. Und dieses «Abenteuer» erscheine auch nur deshalb «krankhaft und moralisch verwerflich», weil Humbert das ständig so beteuere: «Seine Geschichte ist vor allem darum skandalös, weil er sie selber so erlebt und präsentiert.» Als der deutsche Herausgeber Dieter E. Zimmer 1995 in seinem ausführlichen Nachwort zu «Lolita» diese Passage zitiert, leitet er sie mit einer seltsamen Schutzbehauptung ein: Vargas Llosa, so macht er geltend, komme nun mal «aus einem Kulturkreis», wo «ein Verhältnis eines Siebenunddreissigjährigen mit einer Zwölfjährigen nichts Besonderes» sei.

Man kann jetzt mehr oder weniger fassungslos auf solche Kommentare schauen, die noch gar nicht so lange zurückliegen und die auch weiterhin in den einschlägigen Ausgaben von «Lolita» zu finden sind. Oder man kann, frei von der moralischen Selbstgerechtigkeit der Nachgeborenen, einfach registrieren, wie anachronistisch diese Perspektiven inzwischen anmuten. Auch die englische Taschenbuchausgabe von 1997, die «Lolita» auf dem Titel mit einem Zitat aus der Zeitschrift «Vanity Fair» anpreist (aus einem Essay von Gregor von Rezzori), wirkt heute schon völlig aus der Zeit gefallen: «Die einzige überzeugende Liebesgeschichte unseres Jahrhunderts», steht da auf dem Cover.

Zugleich aber hat sich Lolita als popkulturelle Chiffre längst auf eine Weise verselbstständigt, die mit Nabokov und seinem Roman kaum mehr etwas zu tun hat: als sexistisches Klischee der aufreizenden Kindfrau. Dieses populäre Stereotyp ist es, dem die deutsche Schauspielerin Lea Ruckpaul entgegentreten wollte, als sie ihr Romandebüt «Bye Bye Lolita» (2024) schrieb. Sie erzählt darin Nabokovs Klassiker neu, indem sie die Perspektive der Titelfigur einnimmt, der erwachsenen Dolores Haze (siehe WOZ Nr. 7/25). Was denn nicht stimme mit Nabokovs «Lolita», so wurde die Autorin in einem Interview gefragt. Ihre Antwort: «Mit dem Original stimmt alles. Mein Problem ist das, was aus dieser Figur ‹Lolita› geworden ist.» Ruckpaul schreibt also gar nicht so sehr gegen Nabokov an, sondern gegen den Sexismus einer Gesellschaft, die dessen Titelfigur zum Abziehbild einer frühreifen Femme fatale trivialisiert hat.

Kunst als Alibi

Wenn mir heute zu denken gibt, was ich damals in «Lolita» überlesen konnte, hat das gleichwohl auch mit einer gesellschaftlichen Sensibilisierung zu tun, die stattgefunden hat – mit einem kulturellen Wandel, zu dem jetzt auch eine feministische Revision wie «Bye Bye Lolita» beiträgt. Und Ruckpauls Roman zeigt dabei, wie ein produktiver Umgang mit Problemzonen der Literaturgeschichte aussehen kann, und zwar frei von jeder moralischen Panik, die früher oder später immer beim Bücherverbot landet: das Alte neu lesen, weiterschreiben, die Perspektiven erweitern – und damit wie nebenbei den Blick zurück schärfen, in diesem Fall auf den Roman von Nabokov.

Der nimmt davon keinen Schaden, im Gegenteil. So kann, wer «Lolita» heute liest, zum ersten oder wievielten Mal, auch einen ungemein hellsichtigen #MeToo-Roman vor seiner Zeit darin entdecken. Es steht jedenfalls alles schon da, bis hin zur einschlägigen Rhetorik der Schuldumkehr. «Ich werde Ihnen etwas sehr Sonderbares verraten», sagt Humbert an der Stelle, wo er das Kind ein erstes Mal vergewaltigt: «Es war sie, die mich verführte.» Und eine Seite davor macht er geltend, dass die Regionen, in denen er sich bewege, nicht die «Jagdgründe des Verbrechens» seien, sondern die «Gefilde der Poesie». Immer wieder beruft sich Humbert in solcher Weise auf die Kunst; systematisch benutzt er die Poesie als Alibi für alles, was er seiner Schutzbefohlenen antut, die er fortan jede Nacht im Bett schluchzen hört. «Dichter töten nie», plädiert er einmal in eigener Sache. Weil er alles im Dienst der Kunst tut, kann er sich alles erlauben.

Dazu passt auch diese lapidare Schutzbehauptung, die Humbert schon früh im Buch als eigens so ausgewiesene «wichtige Bemerkung» platziert: «Der Künstler in mir hat die Oberhand über den Gentleman.» Liest man das heute, ist darin unweigerlich ein klassisches #MeToo-Phantombild zu erkennen. Gerade in seiner Beiläufigkeit ist das ein bodenloser Satz: Es findet alles Unheil darin Platz, das der Geniebegriff angerichtet hat.

Vladimir Nabokovs «Lolita» ist auf Deutsch bei Rowohlt erschienen, «Bye Bye Lolita» von Lea Ruckpaul bei Voland & Quist.