Israel / Palästina: Ein langer Weg zur Versöhnung

Nr. 44 –

Der Palästinenser Ijad Fatafta sass für einen Messerangriff auf die Israelin Tal Hartuv im Gefängnis – mit dem Gazadeal kam er frei. Ein Besuch bei seiner Familie und der Überlebenden.

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Ijad Fatafta im Videocall mit seiner Familie
Er sei sehr schwach, aber es gehe ihm gut: Ijad Fatafta im Videocall mit seiner Familie aus Kairo.

Hassan Fataftas Vater sass im israelischen Gefängnis, seit sich der Fünfzehnjährige erinnern kann. Er war vier Monate alt, als israelische Soldaten 2010 die Türe des Familienhauses in Tarkumia im besetzten Westjordanland eintraten und Ijad Fatafta mitnahmen.

Wirklich kennengelernt hat ihn Hassan nie, maximal einmal im Monat konnte die Familie den Vater besuchen. Dann sassen sie ihm kurz hinter einer Glasscheibe gegenüber, durch die man nur per Telefon sprechen konnte. Seitdem die Hamas am 7. Oktober 2023 Israels Süden überfiel, rund 1200 Menschen tötete und 251 entführte, waren alle Besuche verboten.

Seit gut zwei Wochen ist der 47-jährige Ijad Fatafta wieder frei, im Gegenzug für eine brüchige Waffenruhe im Gazastreifen und die Freilassung der letzten zwanzig noch lebenden israelischen Geiseln. Für den Sohn aber bleibt er unerreichbar. Wegen der Schwere seiner Tat – Ijad wurde 2010 wegen Mord verurteilt – schob Israel ihn wie rund 150 andere Häftlinge Mitte Oktober nach Ägypten ab. Knapp hundert Verurteilte wurden im Westjordanland freigelassen. 1700 Palästinenser:innen, meist ohne Anklage gefangen genommen, brachte Israel zurück nach Gaza.

Über den Hof der Fataftas in Tarkumia wächst ein Weinstock, darunter spielen Kinder. Drinnen serviert Ijads Cousin Wagdi Fatafta einen Tag nach der Freilassung süsses Baklava. Hassan sitzt neben seinem Onkel Muhammad. Die Stimmung ist gedrückt: weil Ijad in Kairo statt hier auf der Couch sitzt. Weil Israels Armee jede Feierlichkeit verboten hat. Und mit Blick auf den Gazastreifen: «Wie soll man sich schon fühlen nach einem Völkermord?», sagt Wagdi.

Schmerzen am ganzen Körper

Israels Armee hat binnen zweier Jahre laut dem von der Hamas geleiteten Gesundheitsministerium in Gaza mindestens 68 000 Menschen getötet, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Familie Fatafta blickt misstrauisch auf den «ewigen Frieden», den US-Präsident Donald Trump verkündet hat. Wie ein König hatte sich Trump am Tag der Freilassung im israelischen Parlament feiern lassen. Für Zuschauer:innen in Gaza und dem Westjordanland eine groteske Darbietung. Israel habe die von den USA gelieferten Waffen «gut eingesetzt», sagte Trump, da gruben im Gazastreifen Menschen noch in den Trümmern nach den Leichen ihrer Angehörigen. «Dennoch», sagt Cousin Wagdi: «Das Wichtigste ist, dass der Genozid aufgehört hat.»

Vom angekündigten Frieden ist im Westjordanland wenig zu spüren: Einen Tag nach dem Besuch der Reporter töten Soldaten einen elfjährigen Jungen im vierzehn Kilometer entfernten Dorf al-Rihija. Die Armee begründet die Schüsse mit Steinwürfen – als rechtfertige das, ein Kind zu erschiessen. Täglich greifen Mobs radikaler Siedler unter dem Schutz der Armee Palästinenser:innen an.

Wagdis Telefon klingelt, Ijad ruft an. Auf dem Bildschirm erscheint ein magerer Mann mit weisser Schirmmütze und ergrautem Bart. Um die Schultern trägt er einen Schal in den palästinensischen Nationalfarben. Ijad hält sich kurz: Er sei sehr schwach, aber es gehe ihm gut. Mehr will er nicht sagen. Die Armee hat im Vorfeld auch davor gewarnt, mit Medien zu sprechen.

Für viele Israelis sind die 250 lebenslang Verurteilten Terroristen. Auf palästinensischer Seite hingegen sehen viele die Gefangenen als Widerstandskämpfer gegen die israelische Besatzung. Kaum eine Familie hat nicht Angehörige, die Zeit in israelischen Gefängnissen verbracht haben.

«Er wirkt wie der lebende Tod», sagt Muhammad nach dem Telefonat. Beim ersten Gespräch in Freiheit am Abend zuvor habe Ijad von Prügeln und Hunger erzählt. Seit dem 7. Oktober sei das Leben in Haft die Hölle gewesen. Er habe dreissig Kilo abgenommen. Die Angaben decken sich mit denen von Menschenrechtsorganisationen, ehemaligen Gefangenen und mit Recherchen internationaler Medien. Mindestens 75 Palästinenser:innen starben laut der israelischen Organisation PCATI binnen zweier Jahre in israelischen Gefängnissen. Vor dem 7. Oktober seien es ein oder zwei Fälle im Jahr gewesen.

«Ich war Anfang der neunziger Jahre selbst eineinhalb Jahre im israelischen Gefängnis», sagt Muhammad. Ihm sei vorgeworfen worden, Steine auf Soldaten geworfen zu haben. Hat er? «Ich glaube nicht an Gewalt.» Doch seine Bedingungen in Haft seien nichts gewesen, verglichen mit dem Bericht von Ijad. Tausende Palästinenser:innen bleiben weiter in Haft: Die NGO Hamoked zählte vor den jüngsten Freilassungen über 11 000 Gefangene.

«Ich bin sehr glücklich, dass er frei ist», sagt Ijads Sohn. Hassan Fatafta überragt seinen Onkel schon jetzt um einen halben Kopf. Er wirkt älter, als er ist. Ohne Vater aufzuwachsen, sei für ihn ein «grosses Chaos» gewesen. Versteht er, weshalb sein Vater im Gefängnis sass? Der Junge schüttelt den Kopf. «Er ist unschuldig.» Nachdem er als Kind angefangen hatte, seiner Familie Fragen zu stellen, habe man ihm gesagt, dass er jemanden in Israel getötet haben soll. Weder Hassan noch Muhammad noch Wagdi glauben das. Er habe jüdisch-israelische Freund:innen gehabt, sagt Cousin Wagdi. Grosszügig sei er gewesen und habe keiner Fliege etwas zuleide tun können. Gefragt haben sie ihn nie. «Im Gefängnis konnten wir nicht sprechen, ohne dass jemand zuhörte», sagt Muhammad. Ihr Misstrauen gegenüber israelischen Behörden sitzt tief: Die im Westjordanland für Palästinenser:innen zuständigen Militärgerichte garantieren laut Menschenrechtler:innen keine fairen Verfahren.

In Ijads Fall aber fand der Prozess vor einem Zivilgericht statt. Die Gerichtsakten von 2011 sind öffentlich zugänglich und sprechen eine klare Sprache: Im Dezember 2010 überquerten Ijad Fatafta und Kifah Ghanimat mit Messern die Grenze nach Israel. Sie trafen westlich von Jerusalem auf die US-Amerikanerin Kristine Luken und die britisch-israelische Touristenführerin Tal Hartuv auf einer Wanderung. Nach einem kurzen Wortwechsel griffen sie die Frauen an. Hartuv verletzte Ijad mit einem Taschenmesser an der Hand, bevor er sie überwältigte. Die Männer hielten ihre Opfer etwa eine halbe Stunde fest, fesselten sie und begannen dann, auf sie einzustechen. Luken starb noch am Tatort. Hartuv stellte sich tot und erlitt achtzehn Messerstiche sowie Verletzungen der Lunge und des Zwerchfells. Nach dem Angriff schleppte sie sich zu einem mehr als einen Kilometer entfernten Parkplatz, wo eine Familie sie fand.

In Tarkumia will diese Geschichte niemand glauben. «Vielleicht hat ein israelischer Soldat Ijad die Tatwaffe zugesteckt», sagt Muhammad. Palästinenser:innen wie Israelis leben schon lange, spätestens aber seit dem 7. Oktober 2023, in zwei verschiedenen medialen Realitäten. Viele Palästinenser:innen stellen heute die Massaker der Hamas infrage, obwohl sie hundertfach von Kameras dokumentiert sind, auch von den Angreifern selbst. Viele haben diese Aufnahmen nie gesehen oder halten sie für Fälschungen.

Auf israelischer Seite ist das Bild nicht besser: Die Medien berichten kaum über palästinensisches Leid, ziehen die Zahlen der getöteten Menschen in Gaza in Zweifel, stellen Berichte über Hunger infrage oder schieben die Schuld pauschal der Hamas zu. Der Hinweis auf ein vages «militärisches Ziel» rechtfertigt in der israelischen Öffentlichkeit beinahe jede Zahl an zivilen Opfern.

Ijads Fall aber lässt keinen Raum für Zweifel. Nicht nur die Aussage der Überlebenden Hartuv und die Geständnisse von ihm und Ghanimat stimmen überein. An Hartuvs Taschenmesser fanden sich DNA-Spuren von Ijad.

Mit dem Hass leben

In der israelischen Ortschaft Zichron Ja’akow blickt Tal Hartuv auf das Bild von Ijad nach dessen Freilassung. «Ich ertrage es nicht, ihn zu sehen.» Eine sieben Zentimeter lange Narbe auf ihrer Brust und siebzehn weitere erinnern sie bis heute an den Angriff. Sie fühle Wut: «Ich bin froh, dass er krank aussieht.»

Sie sei gleichzeitig für und gegen das Abkommen mit der Hamas gewesen. «Ich weiss, es war richtig, wenn ich die Videos der israelischen Geiseln sehe, die ihren Angehörigen in die Arme fallen.» Sie erinnere sich aber auch an Jahja Sinwar, der 2011 im Austausch gegen den israelischen Soldaten Gilad Schalit freikam. Erst danach stieg er zum Hamas-Anführer in Gaza auf und wurde zum Drahtzieher des 7. Oktober. «Dann habe ich Angst», sagt Hartuv.

Tal Hartuv
Tal Hartuv Foto: Jennie Milne

Israel antwortet auf Terroranschläge seit Jahrzehnten mit harten, oft völkerrechtswidrigen Kollektivstrafen. Doch die Bereitschaft zu bewaffnetem Widerstand ist deswegen nicht gesunken. Im Gegenteil: Je entschiedener die palästinensische Frage von Israel auf Sicherheitspolitik reduziert wurde, desto mehr eskalierte die Gewalt.

Hartuv hat sich nach dem Angriff zurück ins Leben gekämpft. Jahrelange Physio- und Psychotherapie. Laute Geräusche lassen sie noch immer nervös werden. Vor allem aber musste sie lernen, mit ihrem Hass zu leben. Geholfen habe ihr letztlich ein palästinensischer Freund. «Ich weiss nicht mehr, was ich tun soll, ich hasse alle Araber», habe sie ihm eines Tages gebeichtet. Er habe geantwortet: «Du hast jedes Recht, zu hassen, aber richte die Wut auf die Schuldigen.» Heute wisse sie, dass es ein arabisch-israelischer Chirurg war, der ihr nach dem Angriff das Leben rettete. Heute könne sie sagen: «Ich wünsche Ijad den Tod, ohne dass ich dabei Hass gegen die Palästinenser:innen empfinde.»

Nachdem sie darüber öffentlich gesprochen habe, sei eine Zusammenarbeit mit einem Mann aus einem palästinensischen Flüchtlingslager im Westjordanland entstanden. «Wir haben Geld gesammelt, im Camp Räume gemietet und Nachmittagsunterricht für Kinder organisiert.» Den Namen des Projekts will Hartuv aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht sehen. Der Unterricht soll verhindern, dass «palästinensische Kinder zur Gewalt erzogen werden».

Hartuv sagt wie viele Israelis: Die Palästinenser:innen würden ihre Opferrolle unter der Besatzung kultivieren, ohne Verantwortung für den Hass und den Antisemitismus in ihrer Gesellschaft zu übernehmen. Ob nicht auch Israelis ihre Opferidentität politisch nutzen würden? «Nicht auf diese Weise», so Hartuv.

Einige israelische Stimmen wie der Historiker Daniel Blatman von der Hebräischen Universität in Jerusalem sehen das anders: Auch Israel habe seit drei Generationen eine «Opferidentität» aufgebaut, vom Holocaust bis zum Hamas-Massaker. Jede Erwähnung israelischer Verbrechen werde darin zur existenziellen Bedrohung für das Land, schreibt er in der Zeitung «Haaretz». Deutlich wird das auch in der Erzählung des Hamas-Angriffs als eines existenziellen Kampfs ums eigene Überleben. Vergangene Woche benannte Premier Benjamin Netanjahu den Gazakrieg in «Krieg der Wiederauferstehung» um.

Den Vater besuchen

Zurück in Tarkumia: Der Name Tal Hartuv sagt der Familie Fatafta nichts. Der Frage nach Vergebung für erlittenes Unrecht weicht Muhammad aus. «Erst wenn die Besatzung endet, kann hier Frieden herrschen.» Der Überlebenden Hartuv habe er nichts zu sagen, ausser: «Fünfzehn Jahre Gefängnis für Ijad, ist das nicht genug?». Muhammad zählt stattdessen das Unrecht auf, das der Familie widerfahren sei. Er zeigt drei Narben von Schusswunden. «Ich bin nach dem 7. Oktober beim Einkaufen in eine Razzia geraten.» Nicht nur die Israelis, alle sollten sicher sein, sagt Muhammad, «in unserem eigenen Staat mit den Grenzen von 1967».

Dass das passieren wird, ist unwahrscheinlich, mit oder ohne Netanjahu. Trotz Antikriegsprotesten: In elementaren Zukunftsfragen liegen Regierung und Opposition nicht weit auseinander. Die grosse Mehrheit der Israelis unterstützt die Besatzung. Tal Hartuv ist keine Ausnahme, sie will «frühestens in einer Generation wieder von einer Zweistaatenlösung hören».

Und Hassan? Der Fünfzehnjährige hat jüngst die Schule verlassen. Seit dem 7. Oktober 2023 gebe es nichts als Chaos. «Aber die Waffenruhe in Gaza macht mir Hoffnung, dass es etwas friedlicher wird.» Er will bald anfangen zu arbeiten, gerne etwas mit Immobilien. Und seinen Vater besuchen. Vorher aber muss er herausfinden, ob die israelischen Behörden ihn nicht für die Ausreise gesperrt haben.

Mitarbeit: Ratib Qaissy.