Parlamentswahlen in Argentinien: Die Wut auf die Vorgänger ist noch gross
Das überraschend deutliche Wahlergebnis am Sonntag hat die politische Situation in Argentinien grundlegend verändert. Kann der selbsternannte Anarchokapitalist Javier Milei nun durchregieren?
Vor dem Hotel Libertador in Buenos Aires, wo die Wahlparty der Partei La Libertad Avanza steigt, zünden Anhänger von Argentiniens Präsident Javier Milei am Sonntagabend violette Bengalos. Ein Mädchen schwenkt eine Kettensäge aus Pappe in der Luft, aus den Lautsprechern dröhnt «Highway to Hell» von AC/DC.
Der rechtslibertäre Präsident hatte vor der Parlamentswahl angekündigt, die Landkarte Argentiniens werde sich violett färben. Und er hat recht behalten: La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran), deren Farbe violett ist, gewinnt in 16 von 24 Provinzen die Mehrheit der Stimmen. «Heute haben wir einen Wendepunkt erreicht!», ruft Milei auf der Bühne ins Mikrofon.
Die Zwischenwahl, bei der die Hälfte der Abgeordnetenkammer und ein Drittel des Senats neu besetzt wurden, galt als Stimmungstest nach zwei Jahren Regierung von Javier Milei. Die Zustimmung für den selbsternannten Anarchokapitalisten war vor der Wahl auf rund 42 Prozent gesunken – den niedrigsten Wert seit seinem Amtsantritt 2023.
Eine Vielzahl von Argentinier:innen leidet unter den Folgen seiner radikalen «Kettensägenpolitik»: Zehntausende wurden aus dem Staatsdienst entlassen, Sozialhilfen sowie Subventionen für Energie, Wasser und Transport gestrichen. Zwar ist die Inflation deutlich zurückgegangen, doch die Preise steigen im Jahresvergleich immer noch etwa um dreissig Prozent.
Hinzu kommen Korruptionsaffären – um Mileis Schwester Karina, die Gelder aus der nationalen Behindertenbehörde veruntreut haben soll; und um einen Parlamentskandidaten der Regierungspartei, der einräumte, 200 000 US-Dollar von einem mutmasslichen Drogenhändler erhalten zu haben. Viele rechneten daher mit einer Niederlage der Regierung. Doch es kam anders: La Libertad Avanza holte 40,7 Prozent der Stimmen.
US-Einfluss auf die Wahlen
Besonders freute sich US-Präsident Donald Trump über das Wahlergebnis und gratulierte Milei zu seinem «überwältigenden Sieg». «Er leistet hervorragende Arbeit! Das argentinische Volk hat unser Vertrauen in ihn bestätigt», schrieb Trump auf seiner Plattform Truth Social. Der US-Präsident hatte Milei zwei Wochen zuvor bei seinem Besuch in Washington D. C. ein Rettungspaket von zwanzig Milliarden US-Dollar versprochen, um Argentinien vor einer weiteren Wirtschaftskrise zu bewahren. Aber er knüpfte die Hilfe an eine Bedingung: Die USA würden dem argentinischen Präsidenten nur zur Seite stehen, wenn er ein gutes Ergebnis bei den Parlamentswahlen erziele.
«Für die ältere Generation ist diese Intervention von Trump eine Form von Imperialismus, aber die Jüngeren haben ein positives Bild von den USA», sagt die argentinische Politikwissenschaftlerin Valeria Brusco von der Universidad Nacional de Córdoba. Viele Menschen hatten offenbar mehr Angst vor einer Wirtschaftskrise nach einer Wahlniederlage von Milei als vor der Abhängigkeit von den USA. Denn nach dem schlechten Ergebnis bei den Provinzwahlen in Buenos Aires im September war der Wert des Peso eingebrochen, weshalb Milei Trump um Hilfe bat. Der US-Präsident kann mit Milei als Verbündetem seinen Einfluss auf dem lateinamerikanischen Kontinent ausbauen und sich Zugang zu Rohstoffen sichern.
Aber der Einfluss aus den USA auf die Wahlen in Argentinien ist nicht der einzige Grund für das Ergebnis der Parlamentswahlen. Auch die Schwäche der Opposition trug dazu bei, die Linksperonisten konnten von Mileis Misserfolgen nicht profitieren. Interne Machtkämpfe zwischen der Expräsidentin Cristina Fernández de Kirchner und dem Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Axel Kicillof, schreckten die Wähler:innen wohl eher ab. Die Wahlkampagne der Opposition konzentrierte sich ausserdem darauf, Milei zu kritisieren, anstatt ein überzeugendes Zukunftsprogramm zu präsentieren. Viele Menschen sind immer noch wütend auf die vergangenen Regierungen, die sie für die Wirtschaftskrise und die hohe Inflation verantwortlich machen. Sie haben Angst vor der Rückkehr zur Vergangenheit, während Milei es weiterhin schafft, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu verkörpern.
In der ersten Hälfte seiner Amtszeit war Mileis Partei La Libertad Avanza nur schwach im Parlament vertreten und verfügte über wenige Abgeordnete. Zwar konnte der Präsident durch Dekrete Massnahmen ergreifen und per Veto Gesetzesinitiativen blockieren, doch angesichts der schwachen parlamentarischen Basis war er angreifbar. So konnte die Abgeordnetenkammer die von Milei blockierten Ausgaben für die Unterstützung von Menschen mit Behinderung oder für staatliche Universitäten mit mindestens zwei Dritteln der Stimmen aufheben.
Mit dem überraschend deutlichen Wahlergebnis hat sich die Situation grundlegend verändert. Gemeinsam mit der rechten Partei des Expräsidenten Mauricio Macri verfügt Milei nun über mehr als ein Drittel der Sitze in beiden Kammern des Kongresses. Dadurch ist er nicht mehr auf Dekrete und Vetos angewiesen, sondern kann seine libertäre Agenda aktiv über das Parlament vorantreiben.
Umfassende Reformen geplant
Von einem «überwältigenden Sieg» kann trotzdem keine Rede sein. Die Wahlbeteiligung lag bei lediglich 68 Prozent, dem niedrigsten Wert seit 1983 – und das trotz der in Argentinien geltenden Wahlpflicht. Das Ergebnis von gut vierzig Prozent für La Libertad Avanza entspricht in etwa den aktuellen Zustimmungswerten für die Regierung. Eine absolute Mehrheit im Parlament verfehlte Milei, sodass er weiterhin auf die Unterstützung anderer Parteien angewiesen ist, um Gesetze durchzubringen. Das setzt Milei unter Druck, politische Kompromisse einzugehen.
Vom Wahlergebnis profitieren weniger die Argentinier:innen, sondern vor allem internationale Finanzinvestoren. Die in den USA gehandelten Aktien argentinischer Unternehmen stiegen unmittelbar um rund vierzig Prozent, während die Renditen internationaler Staatsanleihen des Landes um zehn bis fünfzehn Punkte zulegten.
Mit der neu gewonnenen parlamentarischen Unterstützung kündigte Milei als eines seiner ersten Vorhaben eine umfassende Arbeitsreform an. Geplante Massnahmen sind unter anderem, die Löhne von Tarifverhandlungen zu entkoppeln, die Probezeit auszuweiten und Kündigungsschutzrechte abzubauen. Ziel ist es, die Gewerkschaften zu schwächen und die Rechte der Angestellten einzuschränken. «Die grossen Investoren fordern niedrigere Lohnkosten. Aber wie soll die Wirtschaft wachsen, wenn die Leute kein Geld haben, um zu konsumieren?», fragt die Politikwissenschaftlerin Valeria Brusco. Ausserdem hat Milei eine Rentenreform angekündigt, die auf ein System individueller Beitragskonten und eine teilweise Privatisierung der Altersvorsorge hinausläuft.
In den kommenden Monaten wird sich zeigen, ob es Milei gelingt, diese radikalen Reformen ohne grösseren Widerstand von Gewerkschaften, sozialen Organisationen und Demonstrationen durchzusetzen. Das libertäre Experiment geht weiter.