Film: Auf allen vieren
Angeblich gibt es diese Theaterregel: Sind eine Schauspielerin und eine Katze auf der Bühne, gehört die Aufmerksamkeit des Publikums – der Katze. Warum? Weil sie authentisch und spontan agiert, wo die Schauspielerin eben spielt. Jennifer Lawrence aber, so beschrieb es ihre Kollegin Emma Stone jüngst im US-Magazin «New Yorker», besitze genau diese Art von Präsenz: Sie sei die Katze.
Wie viel da dran ist, führt «Die, My Love» eindrucksvoll vor Augen – nicht nur, weil Lawrence hier einmal auf allen vieren durchs hohe Gras kriecht. Der ganze Film baut auf ihr seltenes Talent auf, jenseits des Verbalen Zustände und Emotionen auszudrücken. Ihr Spiel reisst mit, selbst wenn man nicht alles versteht, es wirkt echt und unberechenbar, katzenhaft im besten Sinn. Noch dazu arbeitet sie hier mit einer Regisseurin zusammen, der man auch eine gewisse Unberechenbarkeit zugesteht: der Schottin Lynne Ramsay («We Need to Talk About Kevin»). Gemeinsam haben sie eine ungewöhnlich expressive Adaption des gleichnamigen Romans von Ariana Harwicz geschaffen. Im Kern geht es um postpartale Depression.
Eigentlich könnte alles so schön sein: Grace und ihr Mann Jackson (Robert Pattinson) sind gerade erst in ein charmantes altes Farmhaus im idyllischen Montana gezogen. Doch nach der Geburt ihres Kindes fühlt sich Grace zunehmend isoliert und überfordert. Jackson ist wegen seines Jobs tageweise weg, so ist sie viel allein und dem Chaos ihrer Empfindungen überlassen.
Ramsays wilde, impressionistische Inszenierung bricht mit harten Schnitten und ungewöhnlichen Perspektiven die Grenzen zwischen Realität und Phantasmagorie auf. Und sie macht es sich nicht zu einfach: Trotz Ressentiment über die Ungleichheit ihrer aktuellen Situation sind Grace und Jackson ein Paar, das viel Lust aufeinander, wenn auch nicht das tiefste Verständnis füreinander hat. Sie lieben ihr gemeinsames Kind. Aber Grace’ starke Sinnlichkeit, von Lawrence mit hypnotischer Intensität verkörpert, lässt die Dinge geheimnisvoller erscheinen – und zugleich zerstörerischer.
«Die, My Love». Regie: Lynne Ramsay. Grossbritannien/Kanada/USA 2025. Jetzt im Kino.