Film: «Meine beiden Töchter hat der Wolf gefressen»

Nr. 40 –

«Les filles d’Olfa» ist ein faszinierendes Filmexperiment über weibliche Adoleszenz in prekären Verhältnissen. Regisseurin Kaouther Ben Hania hat damit in Cannes den Preis für den besten Dokumentarfilm gewonnen.

Still aus dem Film «Les filles d’Olfa»
Am Set für den Dokfilm: Die zwei jüngeren Töchter spielen sich selbst, die zwei abwesenden werden von Schauspielerinnen verkörpert. Still: trigon-film.org

Geschichten von Müttern, die ihre im Dschihad verschwundenen Töchter suchen, sind in Tunesien mehr oder weniger an der Tagesordnung. Was die Regisseurin Kaouther Ben Hania daran faszinierte, war denn auch nicht das Thema, wie sie bei der Premiere von «Les filles d’Olfa» in Cannes ausführte, sondern die Eigenwilligkeit von Olfa Hamrouni: Die allein erziehende Mutter hatte 2016 in einem Radiointerview den tunesischen Staat beschuldigt, ihre beiden minderjährigen Töchter Ghofrane (16) und Rahma (15) nicht an der Ausreise nach Libyen gehindert zu haben.

Als Jugendliche war Olfa einst vier Jahre lang als Majorette zu Ehren des tunesischen Diktators Ben Ali mitmarschiert. Die Haare hatte sie kurz geschnitten, sie fühlte sich damals als Junge. Und sie machte Krafttraining, um ihre Mutter beschützen zu können, die von ihrem gewalttätigen Ehemann verlassen worden war, weil sie ihm nur Töchter geboren hatte. Ironie der Geschichte: Auch Olfa brachte dann nur Mädchen zur Welt, aber anders als bei ihrer Mutter war sie es, die ihren Ehemann verliess. Sie liess sich scheiden, nahm sich einen Liebhaber und entdeckte ihre Sexualität: «Auch ich wollte etwas haben von der Revolution.»

Das Erbe der Gewalt

Gewalt hatte Olfa nicht nur von ihrem Vater erfahren, sondern auch von ihren beiden älteren Schwestern, die für sie eine Zwangsheirat arrangierten. Später, als sie als Putzfrau allein für ihre Familie aufkam, war Olfa ihrerseits gewalttätig und übergriffig gegenüber ihren Kindern. Mit Gewalt versuchte sie, die Ablösung ihrer adoleszenten Töchter zu verhindern, was dann mit ein Grund dafür war, dass sich die beiden älteren Töchter – aus Protest sozusagen – nach Libyen absetzten, wo sie in einem Lager des Islamischen Staats untertauchten.

In Tunesien wurde die Geschichte seinerzeit medial breit thematisiert. Sechs Jahre nach ihrer ersten Begegnung mit Olfa Hamrouni hat nun Kaouther Ben Hania den Fall aufgegriffen. Die Regisseurin zählt zur Nouvelle Vague des tunesischen Filmschaffens, das seit dem Arabischen Frühling wieder aufgeblüht ist. 1977 in der Provinzstadt Sidi Bouzid geboren, schloss sie sich schon während ­ihres Wirtschaftsstudiums in Karthago der traditionsreichen tunesischen Amateurfilmbewegung an und begann, eigene Kurzfilme zu drehen. Mit dem Filmstudium in Paris vollzog sie den Wechsel zur professionellen Regie; bis heute hat sie sechs Spiel- und Dokumentarfilme realisiert. Bereits mit ihrem zweiten Spielfilm, «La belle et la meute» (2017), schaffte sie den Sprung nach Cannes, mit «Les filles d’Olfa» war Tunesien jetzt erstmals seit 1970 wieder im Wettbewerb vertreten.

Dabei entwickelt Kaouther Ben Hania ein faszinierendes Filmexperiment, um die ganze widersprüchliche Vielschichtigkeit dieses Dramas zum Ausdruck zu bringen. Sie will ihre Protagonistin Olfa sowie deren beide jüngeren Töchter Eya und Tayssir zu Autorinnen ihrer je eigenen Lebensgeschichte machen. In dieser Absicht baut die Regisseurin ihr Set in einem ausrangierten Hotel auf. Zentrales Requisit dieses improvisierten Filmstudios ist ein grosses, bequemes Sofa. Zwei Schauspielerinnen verkörpern die beiden älteren Töchter, die inzwischen zu langen Gefängnisstrafen verurteilt worden sind: Ichrak Matar spielt Ghofrane, Nour Karoui spielt Rahma.

Warten auf den Filmstar

Die äusserst redselige, manchmal auch überforderte Olfa ihrerseits wartet etwas nervös auf dem Sofa, bis die Schauspielerin eintrifft, die die problematischen Teile ihrer Geschichte spielen soll. Es ist die berühmte tunesische Schauspielerin Hend Sabri, die in einem erfolgreichen arabischen Spielfilm eine Mutter gespielt hat, die nach ihren in Syrien verschwundenen Töchtern sucht – weshalb sie für Olfa die Wunschkandidatin für diese Rolle war. Und weil es in «Les filles d’Olfa» in erster Linie um weibliche Lebenszusammenhänge geht, spielt ein einziger Schauspieler (Majd Mastura) sämtliche Männerrollen im Film: etwa Olfas Bräutigam, den sie in der Hochzeitsnacht blutig schlägt, oder ihren drogenabhängigen Liebhaber, der nach ihrer Scheidung in den prekären Haushalt einzieht und den Mädchen das Leben zur Hölle macht.

Die Regisseurin erklärt ihre Versuchsanordnung noch aus dem Off und lässt dann ihre Protagonistin sprechen: «Meine beiden Töchter hat der Wolf gefressen.» So beginnt ein ebenso berührendes wie aufschlussreiches Reenactment, bei dem sich Realität und Fiktion vermischen, wie einst in «Close-Up» von Abbas Kiarostami, den Kaouther Ben Hania zu ihren wichtigen Vorbildern zählt. Die Lust am Spiel und an der Selbstinszenierung kontrastiert mit den geschilderten existenziellen Abgründen, mit denen auch Olfas jüngere zwei Töchter konfrontiert waren.

Die kluge, zurückhaltende Inszenierung und die präzis cadrierten Figuren und Gesichter verleihen diesem kaleidoskopartig arrangierten Dokumentarfilm eine faszinierende physische Intensität. Aber dies ist nur eine Facette der unglaublich vielschichtigen Montage, in der das Chaos auch als Stilmittel eingesetzt wird, um das Publikum zu verunsichern. Um Schuld geht es dabei nur am Rand, in erster Linie geht es um soziale Realität – und das Wiederherstellen von Integrität.

«Les filles d’Olfa». Regie und Drehbuch: Kaouther Ben Hania. Tunesien / Frankreich 2023. Jetzt im Kino.