Literatur: «Ich bin die Metastase»

Nr. 45 –

Mit ihrem Roman «Die Schrecken der anderen» erfindet sich Martina Clavadetscher schon wieder neu – und entfacht ein so augenzwinkerndes wie abgründiges Verwirrspiel.

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Martina Clavadetscher
Schibig und die Alte ermitteln, der braune Morast taut auf: Martina Clavadetscher spielt mit dem klassischen Genre des Kriminalromans.  Foto: Anne Morgenstern

Neonfarbene Skijacke? Violette Moonboots? Da haben sich ja zwei gefunden – und das mitten auf dem zugefrorenen Ödwilersee am Fuss des Frakmont. Sie wirken seltsam aus der Zeit gefallen, Schibig, der Archivar, und «die Alte», die eben zurück in ihren Wohnwagen am Seeufer gezogen ist. Knorrige Gestalten, wie auch die andern Figuren, die diese modrige Moorlandschaft bevölkern, in der, so will es eine Sage aus dem 15. Jahrhundert, der Küfner Fassbind in eine Felsspalte fiel und sich zwischen zwei geflügelten Fabelwesen wiederfand, die ihn bei sich überwintern liessen und im Frühling aus der Felsgrotte zurück ans Tageslicht brachten, wo er zwischen Menschen nicht mehr heimisch wurde und verstarb.

An diese Geschichte erinnert sich Schibig beim Betrachten der Leiche im gefrorenen See. Worauf die Alte orakelt, der Tote sei nicht umsonst an die Oberfläche gekommen.

«Keine Sorgen, das ist kein Krimi», wird sie irgendwann später sagen – worauf folgt: «Als wüsste sie genau, was sie da behauptet.» Wie lustvoll sich da eine Autorin zur allwissenden Erzählerin aufschwingt! Mit ihrer Macht entfacht sie ein Verwirrspiel, das sich über weite Strecken tatsächlich wie ein Krimi liest. Nachdem Martina Clavadetscher in ihrem letzten Buch, «Vor aller Augen» (2022), noch einer Serie von Frauen, die berühmten Malern Modell gestanden hatten, ihre je eigene Stimme zurückgegeben hat, nimmt sie jetzt in «Die Schrecken der anderen» die Fäden wieder selbst in die Hand.

Die Vergangenheit rottet weiter

Und Clavadetscher tut das mitunter maliziös. Zum Beispiel im Fall von Kern, Nachkomme von Schweinebauern, die durch Geschäfte mit den Nazis reich geworden sind: Diesen plagt sie mit Wahrnehmungsproblemen. Einmal sah er «glitzernde Gespinste in der Luft, dünnste Fäden verbanden Kirchenportal und Pizza Xpress, Strassenlaterne und Bushaltestelle, als hätten Tausende Baldachinspinnen ihre seidenfädigen Segel aus dem Hinterleib geschossen und flögen damit kilometerweit über Gebirge und Ozeane und landeten schliesslich hier, ausgerechnet hier, wo sie für Kern eine Kulisse des Horrors webten». Dann wieder spottet sie: «Was Kern unterdessen nicht mitkriegt, sogar trotz neuer Brille nicht mitkriegt, sind alle Geschehnisse ausserhalb seines Sichtfeldes, sprich ausserhalb seiner Geschichte.»

Dass er die Schrecken der anderen nicht sieht, macht Kern zum prototypischen Stellvertreter dieser urschweizerischen Geschichte, eingebettet in eine Moorlandschaft, die mit den Ermittlungen des ungleichen Gespanns von Schibig und der Alten zu tauen beginnt, immer tiefere Schichten des braunen Morasts freilegt und zeigt: Die Vergangenheit rottet weiter. Wie Kerns Mutter im Estrich des Herrenhauses, dieses «Muttergestein» mit einem Gesicht «wie ein kantiges Bergrelief» und einem Körper, der eine Gnadenlosigkeit ausdünstet, «als wäre ihr mitsamt Muskeln und Rundungen auch das letzte Stücklein Güte weggeschrumpft».

Und Kern wartet ab, hält still, während der Mutterberg ihn herumkommandiert, «ihre eisigen Worte schieben sich wie Gletscherzungen durch sein Gehirn, und am Ende bleibt das Geröll in seinem Gedächtnis liegen, verdreckt und schwer». Er hat Magenbeschwerden, wenn er zu den Versammlungen der «Kameraden» muss, wo Zylinder die Uniform ersetzt haben und man statt des alten Vereinsrufs nur noch «Hoch, hoch, dreimal hoch» sagen darf.

Was für ein McGuffin

Fast täte er einem leid, dieser Kern, verdichteten sich all die Anspielungen und Wortspiele nicht zunehmend deutlich zu dräuendem Gesinnungs- und Raubgut aus nationalsozialistischer Vergangenheit, dem er sich nicht entgegenstellt. Wie sagt die greise Mutter einmal: «Ich bin die Metastase.» Auch Schibigs Angststörungen wurzeln in einem damit verknüpften Trauma aus der Jugendzeit, und die Alte ist zurückgekehrt, um eine offene Rechnung zu begleichen. Mitunter sucht das braune Raunen etwas gar offensichtlich den Anschluss an die reale Gegenwart, wie im Fall der «Jungen Aktion» (aka «Junge Tat»), oder kippt ins Didaktische – etwa wenn Clavadetscher Figuren in der plakativen Doppeldeutigkeit von Ansichtskarten erzählen lässt: vorne Schweizer Postkartenidylle, hinten Nazisumpf.

Man kann das auch überlesen, sich umgekehrt freuen ob all der subtilen Hinweise, mit denen die Autorin virtuos zu spielen weiss. Wie hiess noch mal der Tote im Eis: McGuffin? Seit Hitchcock bekannt als an sich inhaltsloser Spannungsträger, der die Handlung vorantreibt – also doch ein Krimi? Sie habe, so Clavadetscher in einem Interview, durchaus mit dem Genre als einer Art Trojanischem Pferd für gesellschaftskritische Themen spielen wollen.

Apropos Krimi: Die Erzählung entfaltet ihren abgründigen Charme nicht zuletzt über die stilistischen wie inhaltlichen Verweise auf den helvetischen Urvater des frivolen Spiels mit dem klassischen Genre des Kriminalromans, Friedrich Dürrenmatt. Da ist das Fressgelage mit Schlachtplatte, überhaupt die Lust am Grotesken, versinnbildlicht im greisen Mutterberg und in der finalen Heimsuchung Kerns, die selbstverständlich nicht verraten sei. Dass die Erzählung zum Schluss dann doch nicht, wie bei Dürrenmatt, die schlimmstmögliche Wendung nimmt: Fast ist man ein bisschen enttäuscht.

Buchcover «Die Schrecken der anderen»
Martina Clavadetscher: «Die Schrecken der anderen». Roman. Verlag C. H. Beck. München 2025. 334 Seiten.

Die Autorin liest am Samstag, 15. November 2025, im Burgbachkeller in Zug und am Donnerstag, 27. November 2025, in der «Werkstatt» in Chur.