Atomwaffentests: Von der eigenen Regierung geschädigt

Nr. 46 –

US-Präsident Donald Trump spricht davon, erstmals seit 1992 wieder Atomwaffen zu testen. Mary Dickson aus dem Südwesten der USA hat die verheerenden Konsequenzen solcher Tests am eigenen Leib erfahren.

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Mary Dickson steht in einem Feld
«Nur wenige Ame­ri­ka­ner:in­nen kennen den erschütternden Preis, den die Menschen für unsere atomare Vergangenheit bezahlen»: Mary Dickson in der Nähe von Salt Lake City.

«Ich bin ein ‹Downwinder›, eine Überlebende von Atomwaffen.» Mit diesen Worten stellt sich Mary Dickson vor. Sie spricht per Videocall aus Salt Lake City, der Hauptstadt des US-Bundesstaats Utah. Es sei «absolut niederschmetternd», dass Donald Trump wieder davon spreche, Atombomben testen zu lassen, sagt Dickson. Der US-Präsident kenne weder die Geschichte noch die Konsequenzen solcher Tests. Schlimmer noch: «Trump weiss nicht einmal, welche Bundesbehörde dafür verantwortlich ist. Es ist nicht das Verteidigungsministerium, wie er sagte, sondern jenes für Energie. Und in solchen Händen liegt der Code für den Start von Atomwaffen.»

Im Gegensatz zu Trump kennt Dickson, heute siebzig Jahre alt, die Geschichte und die Konsequenzen der US-Atomwaffentests nur allzu gut. Sie lebte schon in den fünfziger Jahren als Kind in Salt Lake City – und war immer wieder radioaktivem Niederschlag ausgesetzt, dem sogenannten Fallout. Die US-Regierung hat während vierzig Jahren auf dem Gebiet der Western Shoshone in Nevada Atomwaffen zu Testzwecken gezündet.

Es braucht einen Endspurt

Der Bundesrat weigert sich seit Jahren, dem internationalen Atomwaffenverbotsvertrag (TPNW) beizutreten, obwohl das Parlament dies wünscht. Deshalb hat ein breites Bündnis vor fast eineinhalb Jahren eine Volksinitiative lanciert, die eine Abstimmung über den TPNW-Beitritt ermöglichen will.

Unter Federführung des Schweizer Ablegers der Internationalen Kampagne zur Abschaffung der Atomwaffen und der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) sowie von SP und Grünen sind bisher rund 120 000 Unterschriften gesammelt worden.

«Wir rechnen durch die lange Sammelfrist mit vielen ungültigen beziehungsweise doppelten Unterschriften», sagt Joris Fricker von der GSoA. Um wirklich auf der sicheren Seite zu stehen, bräuchte es zusätzliche 8000 bis 10 000 Unterschriften bis zum Ende der Frist Anfang Januar, schätzt Fricker. Das Zustandekommen der Initiative sei wichtig, um dem aktuellen rechtsbürgerlichen Aufrüstungsfieber etwas Konkretes entgegen­­­zusetzen.

Der Abwind wehte diesen Fallout, radioaktive Staubpartikel, die in die Atmosphäre gelangen und auf die Erde zurückfallen, ins 400 Kilometer entfernte Salt Lake City – und damit auch schon in die Kindheit von Dickson. «Wir tranken Milch aus einer nahe gelegenen Molkerei, assen frisches Gemüse aus dem Garten, mischten Zucker mit Schnee, um so zu tun, als wäre es Eiscreme, und spielten in unserer ruhigen Nachbarschaft in Regenwasserpfützen», erzählt Dickson, die lange Zeit für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Utah tätig war. Sie seien bloss Kinder gewesen. «Wie hätten wir wissen sollen, dass sich ein stilles Gift seinen Weg durch unsere Körper bahnte. Denn die Regierung, der wir vertraut haben, versicherte uns wiederholt, es bestehe keine Gefahr.»

Millionen waren betroffen

Zwischen 1951 und 1992 führte die US-Regierung auf der Nevada Test Site insgesamt 928 Atomwaffentests durch, im ersten Jahrzehnt noch oberirdisch, danach im Untergrund. «Ich hasse es, überhaupt den Begriff ‹Test› zu verwenden», sagt Dickson, schliesslich habe es sich um Detonationen echter Atomwaffen gehandelt – und die meisten davon seien viel stärker gewesen als jene, die die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki 1945 komplett zerstört hatten. Die Menschen seien immer schockiert, wenn sie hörten, über wie viele Jahre die Tests stattgefunden hätten, so Dickson. «Vierzig Jahre, die im Grunde genommen einem nicht erklärten Atomkrieg gleichkamen. Wir wurden von unserer eigenen Regierung geschädigt, während sie behauptete, dies diene unserer Sicherheit.»

Eine bestimmte Detonation habe sich besonders in ihr Gedächtnis eingebrannt: Am 6. Juni 1962, da war sie gerade sieben Jahre alt, setzte eine unterirdische Explosion eine fast fünf Kilometer hohe radioaktive Wolke frei, bestehend aus zwölf Millionen Tonnen radioaktiver Erde. Der Abwind blies den Fallout über Hunderte von Kilometern weit ostwärts bis an die Atlantikküste. «Millionen von US-Amerikaner:innen waren davon betroffen, und die überwiegende Mehrheit weiss bis heute nicht, dass sie ‹Downwinder› sind», sagt Dickson.

Die Liste aus dem Kindheitsviertel

Mit Ende zwanzig erhielt sie die Diagnose Schilddrüsenkrebs. Nachdem ihre Schilddrüse und die Lymphknoten um diese herum operativ entfernt worden waren, musste sie einen radioaktiven Cocktail trinken, um alle verbleibenden Gewebeteile zu zerstören. «Nun war ich das radioaktive Material», erzählt Dickson mit klarer Stimme, während ihr Tränen über die Wangen laufen. Sie habe im Spital bleiben müssen, so lange, bis die Werte auf dem Geigerzähler, den ein Radiologe jeden Tag auf sie richtete, niedrig genug waren. «Und dann sagten sie mir, ich solle mich eine Zeit lang nicht in der Nähe von schwangeren Frauen oder kleinen Kindern aufhalten.»

In jener Zeit begannen Mary Dickson und ihre ältere Schwester, eine Liste von Freunden und Nachbarinnen aus Kindertagen zusammenzustellen, die an Krebs oder Autoimmunerkrankungen litten. «Die Liste umfasste 54 Personen aus einem Gebiet von fünf Häuserblocks in unserem Kindheitsviertel. Zu viele meiner Klassenkameraden starben.» Später musste Dickson den Namen ihrer eigenen Schwester auf die Liste setzen. Sie starb mit 46 Jahren an einer Autoimmunerkrankung und hinterliess drei kleine Kinder.

Ein altes Telefonbuch als Beweis

Vor zwei Jahren publizierte die Vereinigung Internationale ÄrztInnen für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) eine Studie zu den Effekten von Atomwaffentests auf Gesundheit und Umwelt. Neben den USA haben auch die anderen Atommächte wie Russland, China, Frankreich und Grossbritannien seit 1946 Hunderte Atomwaffen zu Testzwecken detonieren lassen und fast alle Weltgegenden mit radioaktivem Niederschlag verseucht. Die IPPNW-Studie kommt zum Schluss, dass die von Atomwaffentests ausgelöste und über den Fallout verbreitete Radioaktivität bis ins Jahr 2000 etwa 430 000 Krebstote gefordert hat. Aufgrund der Langlebigkeit vieler radioaktiver Isotope sind zusätzliche zwei Millionen Krebstote zu erwarten. Die Studie weist auch aus, dass insbesondere Frauen und Indigene zu den Betroffenen gehören.

«Das Problem ist: Nur wenige Amerikaner:innen kennen das Ausmass und den erschütternden Preis, den die Menschen für unsere atomare Vergangenheit bezahlen», sagt Dickson. Die Öffentlichkeit werde bewusst nicht darüber informiert. Dickson erzählt weiter, wie mühevoll und langwierig der Weg war, die US-Regierung in die Verantwortung zu nehmen, die wissentlich ihrer eigenen Bevölkerung Schaden zugefügt habe.

Erst 1990 verabschiedete der US-Kongress ein Gesetz zur Entschädigung bei Strahlenbelastung. «Dabei ist es enorm schwierig, den Nachweis zu erbringen, der für eine Entschädigung nötig ist», sagt Dickson aus eigener Erfahrung. Sie habe versucht, ihre Schulunterlagen zu bekommen, um zu beweisen, dass sie Anfang der sechziger Jahre in Salt Lake City gelebt habe, aber der Schulbezirk hatte sie nicht aufbewahrt. Auch ihre OP-Berichte aus den achtziger Jahren blieben unauffindbar, das Spital hatte sie gelöscht, nachdem es von einer Privatfirma aufgekauft worden war. «Wissen Sie, was ich letztlich als Beweis vorlegen musste? Ein sehr netter Bibliothekar hat für mich in einem Regal der Bibliohek alte Telefonbücher aus Salt Lake City aufgetrieben.»

Trotz der vielen Schicksalsschläge ist Dicksons Widerstandsgeist ungebrochen. «Es ist schmerzhaft, aber eben auch wichtig, dass wir, die wir die von Atomwaffen hervorgerufenen Tragödien aus Ländern auf der ganzen Welt aus erster Hand kennen, solidarisch zusammenstehen, um Zeugnis abzulegen und zu fordern, dass die Fehler der Vergangenheit nie wiederholt werden.» Deshalb seien gerade die aktuellen Bemühungen um ein Verbot von Atomwaffen so zentral, sagt Mary Dickson, die kaum glauben mag, dass ein neutraler Staat wie die Schweiz den Atomwaffenverbotsvertrag immer noch nicht unterschrieben hat.