Ein Traum der Welt: Bis das Imperium bricht
Annette Hug liest wie ein Teenager
Dieses Buch aufschlagen heisst, in eine Wunderwelt eintreten. Man möchte mit imaginären Freund:innen und dem Handy auf Flashlight-Modus unter der Bettdecke verschwinden. Die Autorin Rebecca F. Kuang entführt in eine fantastische Version von Oxford in den 1830er Jahren. Im Zentrum steht ein Turm, der «Babel» heisst, hier studieren die «Babbler» des Königlichen Instituts für Übersetzung. Es sollten eigentlich nur Männer sein, aber Kuang schmuggelt Frauen hinein. Die Studentinnen und Studenten kommen aus Indien, England, aus der Karibik und China.
R. F. Kuang ist 1996 in Guangdong geboren, wuchs dann mit ihrer chinesischen Familie in Texas auf. Ich stelle mir vor, dass «Harry Potter» zu ihren frühen Leseabenteuern zählte. Als sie später in Oxford zu studieren begann, muss ihr die Stadt als Variante von Hogwarts erschienen sein. J. K. Rowlings Schule für Zauberkünste scheint Kuangs fantastisch-gelehrter Anverwandlung der Universitätsstadt zugrunde zu liegen. Der Autorin gelingt das Kunststück, über Sprache und Imperium nachzudenken und gleichzeitig ein Lesevergnügen zu schaffen, einen «Harry Potter für Erwachsene».
Im Zentrum stehen Silberbarren, die ihre Wirkung aus einer Lücke beziehen. Ein Professor erklärt es so: «Das Kernprinzip des Silberwerkens ist die Unübersetzbarkeit. Wenn wir sagen, dass ein Wort oder ein Satz unübersetzbar ist, meinen wir damit, dass es in einer anderen Sprache keine genaue Entsprechung gibt.» Aus dem, «was wir verlieren, wenn wir zwischen Sprachen vermitteln», macht Kuang eine Technologie, die das Imperium antreibt: Menschen, die in unterschiedlichen Sprachen leben und Wörter nicht nur abspeichern, sondern in ihrer sinnlichen und etymologischen Fülle auch erleben, wählen Wortpaare aus und gravieren sie auf zwei Seiten eines Barrens. Das chinesische 台风, «taifeng», und das deutsche «Taifun» zum Beispiel. Hält die Übersetzerin den so gezeichneten Silberbarren in der Hand und spricht beide Wörter aus, beginnt der Barren zu vibrieren – die Resonanz zwischen einem gräkolateinischen Monster Typhon und einem Lehnwort im Chinesischen, das durch die Auswahl der Schriftzeichen die Bedeutung «grosser Wind» annimmt, wird zur Energiequelle. Gelungene Wortpaare wirken auf die Realität ein, machen Schienen sicherer, Licht heller, heilen die Cholera.
In Kuangs Welt wäre das britische Weltreich ohne «Silberwirken» nicht denkbar. Sprachfähigkeiten sind deshalb ein ökonomisches Gut, das gepflegt und gehortet wird. Wobei sich die Hauptfiguren dem Widerstand anschliessen. Sie wollen aus ihrer Position als nützliche Diener:innen eines rassistischen Getriebes ausbrechen. Nicht umsonst heisst die Hauptfigur «Robin». Der Rächer der Unterdrückten profitiert davon, dass Kuangs Zeichnung des Übersetzungsinstituts einen guten Schuss Gegenwartssatire enthält: Wie in allen geisteswissenschaftlichen Abteilungen seien die Buchhalter Babels nicht die besten ihres Fachs, ihr Dilettantismus mache Diebstahl einfach. Bis ein Sadoprofessor die tödlichen Schutzzauber hochfährt. Entpuppt sich der antiimperialistische Untergrund als terroristische Sekte, oder wird er das Imperium tatsächlich ins Wanken bringen? Genuss der Fiktion: In einem fantastischen 19. Jahrhundert bleibt diese Frage lange offen.
Annette Hug ist Autorin und Übersetzerin in Zürich. Der Roman «Babel» von R. F. Kuang ist in der deutschen Übersetzung von Heide Franck und Alexandra Jordan 2023 erschienen (Eichborn / Bastei Lübbe). Der Titel des englischen Originals von 2022 lautet «Babel. Or the Necessity of Violence. An Arcane History of the Oxford Translators’ Revolution».