Zürcher Mobilitätsinitiative: Wenn Vernunft zum Feindbild wird
Weniger Lärm, weniger Tote, mehr Lebensqualität – trotzdem kämpfen die Bürgerlichen gegen Tempo 30.
Eigentlich ist Tempo 30 eine Erfolgsgeschichte. Seit der Einführung 1989 haben die Dreissigerzonen im Schweizer Strassennetz deutlich an Boden gewonnen, vor allem in den Städten. In Basel sind 63 Prozent des innerstädtischen Netzes verkehrsberuhigt, in Zürich dürfte der Anteil ähnlich hoch liegen. Landesweit leben vierzig Prozent der Bevölkerung in einer Tempo-30-Zone.
Das überrascht kaum: Tempo 30 führt nachweislich zu weniger Unfällen und höherer Lebensqualität. Eigentlich ein politischer Selbstläufer – doch wie so oft in der bürgerlichen Schweiz ist es nicht so einfach.
Der rechte Backlash der jüngeren Zeit macht auch vor den Dreissigerzonen nicht halt. Verkehrsminister Albert Rösti will über eine Revision der Signalisations- und Lärmschutzverordnung die Einführung von Tempo 30 auf grösseren Strassen durch Dörfer und Quartiere erheblich erschweren. Er will seinen Plan auf dem Verordnungsweg durchboxen, an Parlament und Bevölkerung vorbei.
Zudem stimmt der Kanton Zürich am 30. November über die «Mobilitätsinitiative» ab, die vorsieht, dass künftig nur noch der Kanton das Tempo auf Strassen «mit überkommunaler Bedeutung» festlegen darf. Während der Kanton in den übrigen Gemeinden schon heute das letzte Wort hat, konnten die Städte Zürich und Winterthur bisher auf ihrem Stadtgebiet auch auf Hauptverkehrsachsen eigenständig über Tempolimits entscheiden. Diese Kompetenz soll ihnen nun entzogen werden.
Und Zürich ist kein Einzelfall: In diversen weiteren Kantonen wurden in den letzten Jahren Vorstösse eingereicht, die darauf abzielen, Temporeduktionen einzuschränken – darunter Bern, Luzern und St. Gallen.
Zum Beispiel Ottenbach
Um dieser Offensive zu begegnen, forderten vergangene Woche rund 600 Städte und Gemeinden in einem offenen Brief an Bund und Kantone, die Gemeindeautonomie zu respektieren und lokale Spielräume nicht weiter zu beschneiden. Dabei beriefen sie sich auf die verfassungsrechtlich garantierte Gemeindeautonomie. Unter den Unterzeichnenden finden sich zahlreiche bürgerliche Gemeindevertreter:innen, was die Frage aufwirft, ob die Kantonalparteien wirklich im Interesse ihrer eigenen Exekutiven handeln.
Der Zürcher GLP-Kantonsrat Ronald Alder ist als Gemeinderat von Ottenbach Teil einer betroffenen Exekutive. Die Zürcher Mobilitätsinitiative, sagt er, ziele zwar vor allem auf Zürich und Winterthur, deren Tempo-30-Pläne man ausbremsen wolle, «aber am Ende trifft sie alle Gemeinden im Kanton». Denn die Initiative fordert auch, dass Tempo 30 nur noch in Ausnahmefällen und auf sehr kurzen Strecken eingeführt werden darf.
In Ottenbach zieht sich eine Kantonsstrasse mitten durchs Dorf. Im Zentrum der Säuliamtgemeinde gibt es einen neuen Dorfplatz mit Spielplatz und Sitzgelegenheiten: ein Ort zum Verweilen. «Aber damit er wirklich attraktiv wird, muss der Verkehr beruhigt werden – sowohl aus Sicherheits- wie auch aus Lärmgründen», sagt Alder. Nach langen Verhandlungen habe der Kanton Tempo 30 auf einem 700 Meter langen Abschnitt bewilligt. «Wird die Initiative angenommen, wäre so etwas nicht mehr möglich.» Damit schränke sich der Kanton selber ein, sagt Alder: «Er entzieht sich die eigene Entscheidungskompetenz.»
Dabei sei eine Temporeduktion auch verkehrstechnisch sinnvoll, sagt Alder. «Fährt man langsamer, fliesst der Verkehr flüssiger.» Das oft beschworene Schreckensbild einer Verkehrsverlagerung in die Quartiere hält er daher für Unsinn. Generell zeigt sich Alder irritiert über den Ton der Debatte: «Es ist erschreckend, wie weit sich manche Tempo-30-Gegner:innen in ihrem ideologischen Kampf von der Realität entfernt haben.»
Ängste statt Fakten
Tatsächlich ist das Ausmass an Falschinformationen in dieser Kampagne selbst für die SVP bemerkenswert. Auf ihrer Website beruft sich die Partei ausgerechnet auf die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) und behauptet, diese befürworte ein «30/50-Modell» – Tempo 30 in Quartieren, Tempo 50 auf Hauptachsen. In Wahrheit fordert die BFU das Gegenteil: einen «Paradigmenwechsel in der Verkehrsplanung» hin zu mehr Dreissigerzonen.
Rund sechzig Prozent aller schweren Verkehrsunfälle passieren innerorts. Auf Tempo-50-Strecken werden jährlich fast 1900 Menschen schwer verletzt, 80 sterben. «Ein Drittel dieser Unfälle liesse sich verhindern», schreibt die BFU, «wenn Tempo 30 überall dort eingeführt wird, wo es die Sicherheit erfordert». Studien zeigen zudem, dass das Risiko tödlicher Verletzungen gegenüber Tempo 50 um bis zu 75 Prozent sinkt.
Statt diese Fakten anzuerkennen, schürt die SVP Ängste – und scheut nicht davor zurück, sogar Kinder vorzuschieben. Nationalrätin Nina Fehr Düsel warnt bei einer Einführung von Dreissigerzonen auf Hauptstrassen vor Ausweichverkehr in die «heute sicheren Wohngegenden», wo «unsere Kinder» unterwegs seien. Als Beleg dient ihr eine TCS-Umfrage, laut der sechzig Prozent der Befragten diese «Befürchtung» teilten. Auf wissenschaftliche Belege beruft sie sich bezeichnenderweise nicht. Denn diese gibt es nicht. Studien zeigen keine oder nur minimale Verlagerungseffekte – allerdings eine deutliche Verringerung des Verkehrslärms, was zu nachweislich weniger Stress, Schlafstörungen und Herz-Kreislauf-Risiken führt.