Das Erbe von Dayton: Die erste Schlacht des neuen Faschismus
Dreissig Jahre nach dem Friedensvertrag von Dayton, mit dem die Jugoslawienkriege 1995 endeten, wird deutlich: Dies war der erste Schauplatz eines neuen, transnationalen Faschismus. Personelle und ideologische Verbindungen wirken bis heute fort.
Als am 21. November 1995 die Staatschefs Bosniens, Kroatiens und Restjugoslawiens im US-Luftwaffenstützpunkt Dayton, Ohio, den Frieden besiegelten, glaubte man im Westen, ein blutiges Kapitel europäischer Geschichte endgültig geschlossen zu haben. Tatsächlich aber wurde an jenem Tag eine ethnisch fundierte Ordnung installiert, die bis heute die Welt prägt. Dreissig Jahre später lässt sich besser als je zuvor erkennen, dass der Jugoslawienkonflikt nicht der letzte Krieg des 20. Jahrhunderts war, sondern vielmehr die erste grosse Auseinandersetzung des 21. Jahrhunderts: ein Vorbote jenes neuen, globalen Faschismus, der heute Demokratien in ihren Fundamenten angreift.
Nur ein Jahr nachdem die Sowjetunion und mit ihr der gesamte Ostblock zusammengebrochen war, entfachte der serbische Präsident Slobodan Milošević 1992 einen Krieg, um ein grossserbisches Reich auf den Trümmern des jugoslawischen Staates zu errichten. Hierzu sollten vor allem Gebiete, in denen Serb:innen siedelten, gewaltsam ans Mutterland angeschlossen werden. Im Fokus standen Territorien in Kroatien und Bosnien-Herzegowina. Tatsächlich ist aus zahlreichen Urteilen des Haager Jugoslawien-Tribunals bekannt, dass es sich hierbei um einen Angriffskrieg Serbiens handelte. Allein für den Überfall auf Bosnien habe Milošević 100 000 Soldaten, Tausende Panzer, Geschütze, Raketen, Flugzeuge und Hubschrauber mobilisiert, so das Gericht.
Für die internationale Rechte stellte Serbiens Aggression, speziell gegen seinen bosnischen Nachbarn, ein Modell für kommende Auseinandersetzungen um die globale Ordnung dar. Hier war zu beobachten, wie sich antiislamischer Rassismus, identitäre Ideologie und völkische Politik in einen bewaffneten Kampf übersetzen liessen. Die Rhetorik der serbischen Propaganda von einer angeblichen Bedrohung durch einen «muslimischen Staat» mitten in Europa war die frühe Form jener Verschwörungen, die heute die Alt-Right, die Identitären, die QAnon-Bewegung und die Maga-Ideologie kennzeichnen.
Die nationalistische Phalanx
So fand sich auf der Seite der serbischen Nationalist:innen erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg ein internationales faschistisches Netzwerk zusammen, das bis heute fortwirkt. Zu den Besuchern bei Radovan Karadžić, dem damaligen Präsidenten der 1992 ausgerufenen Republika Srpska (RS) in Bosnien-Herzegowina, zählte auch Front-National-Gründer Jean-Marie Le Pen. Öffentlich unterstützte er die serbische Sache, lobte Karadžićs Widerstand gegen die Nato und erklärte, dass die Serben Verteidiger eines christlichen Europa seien.
Zu den prominentesten Gästen zählten auch der Vordenker des neuen russisch-eurasischen Imperialismus Alexander Dugin und sein damaliger Freund Eduard Limonow, mit dem er 1993 die Nationalbolschewistische Partei gründete. (Limonow schoss von den Bergen über Sarajevo mit einem schweren Maschinengewehr auf die Stadt.) Dugin stellte 1992 die russisch-eurasische Ideologie in eine Reihe mit dem deutschen Nationalsozialismus, dem italienischen und dem spanischen Faschismus und der rumänisch-antisemitischen Eisernen Garde, da sie alle der Kampf um eine soziale sowie kulturelle Erneuerung auszeichne. Der Ultranationalist Wladimir Schirinowski sicherte Karadžić bei einem persönlichen Besuch im Regierungssitz in Pale die Unterstützung Russlands zu. Ebenso zeigte sich der italienische Lega-Nord-Chef Umberto Bossi von der Politik von Karadžićs Partei SDS begeistert.
Ultranationalist gewinnt
Als Siniša Karan, der Präsidentschaftskandidat der serbisch-ultranationalistischen Regierungspartei, am Sonntag bei den vorgezogenen Wahlen in der Republika Srpska (RS) die knappe Mehrheit der Stimmen erringt, bedankt er sich postwendend bei Milorad Dodik, seinem Mentor und Parteivorsitzenden.
Der autoritär regierende Expräsident Dodik hat die RS in verschiedenen Funktionen fast dreissig Jahre lang geprägt, seine zündelnde Sezessionsrhetorik hat sich zusehends in Richtung Sezessionspolitik verlagert. Aufgrund eines Gerichtsurteils wegen «separatistischer Aktivitäten» wurde er schliesslich abgesetzt und mit einem Amtsverbot belegt. Gewinnt Karan auch die Stichwahl, dürfte Dodik im Hintergrund der mächtigste Mann in der Teilrepublik bleiben.
Mitglieder der neofaschistischen Bewegung Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) nahmen mit einer griechischen Freiwilligengarde gar an den Kriegshandlungen teil. Auch der Russe Igor Wsewolodowitsch Girkin, Kampfname Strelkow, kämpfte für die RS und soll in Višegrad an einem Massenmord an Muslim:innen beteiligt gewesen sein. Girkin gilt heute als einer der Drahtzieher des Donbas-Konflikts. Er soll für den Abschuss des Malaysia-Airlines-Flugs 17 verantwortlich sein.
Wie im Spanischen Bürgerkrieg Linke aus aller Welt für die Republikanischen Garden einstanden, kamen in den neunziger Jahren nun die rechten Kräfte zusammen, um für die Blut-und-Boden-Ideologie der kommenden Zeit zu kämpfen. Diese mörderische Ideologie wirkt weit in die weltweite Rechte hinein. So beriefen sich die faschistischen Attentäter Anders Behring Breivik in Norwegen und Brenton Tarrant in Neuseeland auf General Ratko Mladić und Radovan Karadžić, die vom Uno-Tribunal in Den Haag beide wegen Völkermord verurteilt worden waren. Während Tarrant mit seinem Auto zum Terrorakt in Christchurch fuhr, liess er im Radio serbische Songs über Karadžić laufen.
Bis heute gibt es zahlreiche personelle und ideologische Verbindungen der internationalen Rechtsparteien zu ihren serbischen Verbündeten: So unterhält der heutige französische Rassemblement National (RN) enge Kontakte zu Milorad Dodik, dem ultranationalistischen und vom bosnisch-herzegowinischen Bundesgericht abgesetzten Präsidenten der Republika Srpska (vgl. «Ultranationalist gewinnt»), sowie zu Aleksandar Vučić, dem autokratisch herrschenden Präsidenten Serbiens. Die beiden RN-Abgeordneten Thierry Mariani und Hervé Juvin erschienen 2022 bei der Feier zum 9. Januar in Banja Luka, um die Gründung der RS zu ehren. Für die nichtserbische Bevölkerung bedeutet das Datum den Auftakt zu Vertreibung und Massenmord. Das bosnische Verfassungsgericht hatte in einem Urteil den 9. Januar als offiziellen Feiertag für verfassungswidrig erklärt.
Auch der damalige Politiker der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) Johann Gudenus reiste 2018 als Vertreter seiner Partei in die RS, um seine Unterstützung für Dodiks faschistische Politik zu bekunden. In Österreich ist Gudenus für seine rassistische und antiislamische Haltung bekannt und gilt im Hinblick auf die Migrationspolitik als Scharfmacher. Zu den weiteren Gästen zählen serbische Regierungsmitglieder wie die Premierministerin, Ana Brnabić, der russische Botschafter Igor Kalabuchow und der Präsident Südossetiens, Anatoli Bibilow. Die Botschaft ist klar. Südossetien, das sich mit Russlands Hilfe von Georgien abgespalten hat, unterstützt Dodiks Separationsbestrebungen.
Dodik wie Vučić sind auch regelmässige Interviewpartner der Schweizer Zeitschrift «Weltwoche». «In Belgrad mit Präsident Aleksandar Vučić, einem der mutigen und klugen Politiker in Europa», twitterte Verleger Roger Köppel erst Anfang November.
Ob der Vlaams Belang in Belgien oder die AfD in Deutschland, die Fidesz-Partei in Ungarn, die österreichische FPÖ oder die griechische Chrysi Avgi: Sie alle finden sich beim Thema des Krieges in Bosnien. Sie bilden den extremistischen Kern innerhalb ihrer Gesellschaften, die sie weiter radikalisieren. Heute treffen sich die antiliberalen Kräfte regelmässig, um sich über ihre Strategien auszutauschen und gegenseitig zu stützen, etwa 2023 in Belgrad beim Cross-Continental Conservative Congress.
Die Verbindungen reichen bis in die USA: Auch Trumps früherer Vertrauter und ideologischer Vordenker Steve Bannon knüpfte Bande mit Dodik wie auch zum ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der als Bewunderer Slobodan Miloševićs und Freund Wladimir Putins gilt. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass auch die Autor:innen des «Project 2025» (eine Blaupause für Donald Trumps autoritären Umbau der USA) sich ausgerechnet ein Beispiel an Viktor Orbán nahmen, der wiederum selbst bei Milošević Anleihen holte und heute zu den engsten Verbündeten der Ultranationalisten Dodik und Vučić zählt.
Orbán bedient sich nicht nur bei Miloševićs Machttechnik, sich staatliche Institutionen dienstbar zu machen, indem er sie mit ihm treu ergebenen Gefolgsleuten besetzt und gegen die Bürokratie wettert, er greift auch dessen Erzählung auf, wenn er etwa vor der «Überfremdung durch muslimische Flüchtlinge» warnt.
Die Maga-Bewegung wiederum, die auf der «White Supremacy»-Ideologie beruht, fürchtet schon lange, dass die «weissen Amerikaner» innerhalb der USA zu einer Minderheit werden und auf Dauer die Macht in den politischen Institutionen verlieren könnten. Ob Trump, Orbán, Dodik, Vučić oder Putin – sie teilen die gleichen Werte und arbeiten gemeinsam an den gleichen Zielen: der Vorherrschaft einer christlich-nationalistischen Elite, der sich alle anderen unterordnen sollten – oder sie müssen verschwinden.
Unterscheidung nach Herkunft
Der Dayton-Vertrag hinterlässt ein düsteres Erbe. Statt das Recht wiederherzustellen und die Opfer zu schützen, kodifizierte er eine Ordnung, die aus den Ergebnissen ethnischer Säuberungen konstruiert war. Die Republika Srpska erhielt einen anerkannten Status, obwohl sie auf Vertreibungen, Massenmorden und Lagern gründete. Bosnien selbst wurde in ein Staatswesen verwandelt, das auf ethnischer Repräsentation statt auf individueller Gleichheit beruht. Der Westen schuf eine Ordnung, die den Ausnahmezustand zum Normalzustand erklärte. Damit wurde Dayton zu einem Wendepunkt.
Die neue Ordnung basierte auf der Unterscheidung nach Herkunft und diente als Modell für spätere internationale Eingriffe: im Kosovo, im Irak, in Afghanistan, in Libyen. Die vermeintliche Stabilisierung durch ethnische Trennung wurde zum Werkzeug internationaler Politik. In dieser neuen Form technokratischen Regierens konnten sich rechtsextreme Bewegungen wiederfinden: Der Staat musste nicht mehr gerecht sein, er musste nur Ordnung sichern, notfalls gegen Teile seiner eigenen Bevölkerung. Die globalen Folgen dieser Entwicklung sind heute sichtbar.
Viktor Orbán übernahm zentrale Elemente der serbischen Nationalisten: die Rhetorik der demografischen Bedrohung, die Feindmarkierung, die Umgestaltung staatlicher Institutionen zugunsten loyaler Kader. Putins Eurasianismus wiederum verdankt Dugin, dem Gast Karadžićs, ein ideologisches Fundament, das in der Ukraine seine eigene blutige Umsetzung findet. Steve Bannon pflegt enge Kontakte nach Banja Luka und Belgrad, weil er dort das erkennt, was auch Trump bewundert: die Bereitschaft, Demokratie zu einer identitären Verwaltung umzubauen.
Wenn man heute auf den Krieg in Bosnien zurückblickt, erkennt man die Geburtsstunde eines neuen politischen Prinzips. Es verbindet autoritäre Gewalt mit dem Anspruch ethnischer Reinheit, nutzt die Sprache des Rechts, um die Idee des Rechts zu zerstören, und stützt sich auf internationale Netzwerke, die seit den neunziger Jahren kontinuierlich gewachsen sind. Bosnien war der Ort, an dem dieser neue Faschismus erstmals sichtbar wurde und an dem er politisch überlebte, weil der Westen das Unrecht nicht beendete, sondern in eine verfasste Ordnung überführte.
Der neue autoritäre Zeitgeist, der von Washington über Budapest bis Moskau reicht, ist ohne Bosnien nicht zu verstehen. Dreissig Jahre Dayton markieren somit den Beginn einer Epoche, in der sich die liberale Ordnung stetig zurückzieht. Bosnien war die erste Schlacht des neuen Faschismus. Dies zu erkennen, ist die Voraussetzung dafür, zu begreifen, wie viel von jener Welt, die man 1995 zu retten glaubte, in Wahrheit schon auf dem Spiel stand.
Sead Husics Buch «Die Zeitenwende begann in Jugoslawien. Von Milošević zu Trump» ist im Mai 2025 im Berner BaltArt-Verlag erschienen.