Dreissig Jahre nach dem Genozid: Die Vergangenheit muss warten

Nr. 28 –

Während der Völkermord von Srebrenica international breit anerkannt ist, wird in der ostbosnischen Stadt selbst um die Erinnerung gerungen. Statt Aufarbeitung gibt es wachsende politische Spannungen.

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Wenige Hundert Meter liegen zwischen den zwei Geschichten von Srebrenica, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Da ist einerseits die Gedenkstätte Potočari. Tausende weisse Steine, aufgereiht auf einem Grabfeld. Gegenüber der ehemalige Uno-Stützpunkt, in dem der Kurator und Überlebende Azir Osmanović in seinem Büro sitzt und sagt: «Ich weiss nicht, ob ich den Tag erleben werde, an dem die Serben den Genozid anerkennen.»

Andererseits steht im Ortskern Srebrenicas, nur wenig vom Rathaus entfernt, ein kleines Gebäude mit abbröckelnder Fassade. Drinnen ein Raum, ganz in Rot-Blau-Weiss gehalten, an der Decke orthodoxe Fresken. An der Wand kleine Porträts mit Namen und mit Todesdatum versehen. Es ist die Gedenkstätte für die serbischen Kriegsopfer. In der Mitte steht Branimir Kojić, ein grosser Mann mit kurz geschorenem Haar, und deutet auf eines der Bilder: «Schau, das ist mein Vater. Er wurde vor seiner eigenen Haustür massakriert.» Von Bosniaken, wie er sagt. «Die Geschichte vom Völkermord wurde also erfunden, um uns Serben die Schuld zu geben. Wir respektieren jedes Opfer, aber es ist unmöglich, dass über 8000 Menschen innert zwei bis drei Tagen getötet wurden», sagt Kojić.

Portraitfoto von Branimir Kojić
Branimir Kojić, Präsident des serbischen Opferverbandes von Srebrenica (SRNA)*

Von der Rhetorik zur Politik

8372: So viele Menschen, mehrheitlich Jungen und Männer, wurden bei den Massakern rund um die ostbosnische Stadt Srebrenica im Jahr 1995 gemäss aktuellem Forschungsstand ermordet. Es kam zur systematischen Vergewaltigung vieler bosniakischer Frauen. Das Verbrechen jährt sich in diesen Tagen zum 30. Mal. Der Bosnienkrieg dauerte schon ein Jahr, als die Uno Srebrenica im Frühling 1993 zur Schutzzone erklärte und die dort lebenden Männer entwaffnete. Und zwei Jahre später, am 11. Juli 1995, übergab der niederländische Blauhelmkommandeur Thom Karremans dem serbischen General Ratko Mladić kampflos die Kontrolle über die Stadt. Unmittelbar danach begannen die bosnisch-serbischen Truppen, die bosniakischen Zivilist:innen, die sich auf das Gelände der Uno-Basis im wenige Kilometer entfernten Potočari geflüchtet hatten, zu separieren.

Frauen und Kinder wurden von Männern und älteren Jungen getrennt. Während Erstere mit Bussen aus der Enklave in das von der bosnischen Regierung kontrollierte Gebiet rund um Tuzla im Nordosten Boniens abtransportiert wurden, wurden die Männer und Jungen in den darauffolgenden Tagen systematisch exekutiert: die einen bei Massenhinrichtungen, andere auf der Flucht durch die Wälder.

Die serbischen Hauptkriegsverbrecher wurden später am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag (IStGHJ) angeklagt und viele von ihnen verurteilt. Auch wegen Völkermord. Und am 23. Mai 2024 verabschiedete die Uno-Generalversammlung eine Resolution, die den 11. Juli zum Internationalen Tag des Gedenkens an den Völkermord von Srebrenica erklärt – und auch die Leugnung des Völkermords und von Kriegsverbrechen verurteilt.

Während Uno und internationale Gerichte keine Zweifel an den Geschehnissen lassen, sieht es in Srebrenica ganz anders aus. In der Republika Srpska, jener bosnischen Entität, die im Dayton-Friedensabkommen vom Dezember 1995 den bosnischen Serb:innen zugeschlagen wurde und in der auch Srebrenica liegt, wehen heute nicht etwa die blau-gelben Fahnen mit den weissen Sternen des bosnischen Staats. Es dominiert die rot-blau-weisse Flagge mit serbischem Adler oder mit dem Wappen von Srpska darauf.

Viele hier machen keinen Hehl daraus, dass sie lieber zum angrenzenden Serbien gehören würden. Am allerwenigsten Milorad Dodik, der Präsident der Republika Srpska. Der sagte zuletzt gegenüber der österreichischen Wochenzeitung «Profil»: «Belgrad ist unsere Hauptstadt. Ihr könnt uns nicht in eine Illusion hineinzwingen, die Bosnien und Herzegowina heisst. Ihr könnt uns nicht dazu bringen, Serbien nicht mehr zu lieben.»

Seit Jahren schon zündelt Dodik mit Sezessionsrhetorik. Im Frühjahr 2024 hat ihn ein bosnisches Gericht zu einem Jahr Haft und sechs Jahren Berufsverbot verurteilt, weil er Beschlüsse des Hohen Repräsentanten, der von einem internationalen «Friedensimplementierungsrat» eingesetzt wird und die Umsetzung des Dayton-Abkommens überwachen soll, missachtet hatte. Noch bevor der Haftbefehl Anfang Juli unter Auflagen vorläufig aufgehoben wurde, kündigte Dodik an, das Urteil nicht vor Gericht anfechten zu wollen – sondern Gesetze zu verabschieden, die den Gerichten und der Polizei Bosnien-Herzegowinas den Zugriff auf das Territorium der Republika Srpska verwehren würden. «Er macht damit de facto Schritte weg von einer Sezessionsrhetorik hin zu einer Sezessionspolitik», sagt dazu Vedran Džihić vom Österreichischen Institut für Internationale Politik in Wien.

Ringen um Gerechtigkeit

Und ein zentraler Bestandteil dieser Politik bestehe darin, zu leugnen, was vor dreissig Jahren in Srebrenica passiert sei. «Um das Gebiet Ostbosnien für sich zu beanspruchen, muss er die Wahrheit über die Geschichte auf diesem Territorium für sich beanspruchen», sagt Džihić. Denn: Umgekehrt fürchteten viele Serb:innen, dass eine Anerkennung des Genozids zur Folge hätte, dass bosniakische Politiker:innen fordern könnten, dass Gebiete wie etwa Srebrenica von Srpska abzutrennen seien. Dabei hatte Dodik den Völkermord einst selbst anerkannt – bevor er sich in den späten nuller Jahren aus reinem Machtkalkül von der EU ab- und serbischen Nationalist:innen zuwandte. Von diesen wird er heute gefeiert. Vielen Bosniak:innen macht seine Politik hingegen Angst.

«Die Neunziger sind zurück», sagt Nermina Lakota. «Auch damals dachten wir: Alles bloss Drohungen, die bald wieder abebben werden.» Lakota ist 65 Jahre alt. In ihren Händen hält sie ein Smartphone mit zwei Bildern: Das eine zeigt einen jungen Mann in Anzug und Krawatte, das andere einen älteren Herrn im Poloshirt. Ihr Bruder und ihr Vater, aufgenommen Anfang der neunziger Jahre. Nur als vorübergehende Vorsichtsmassnahme hätten die beiden sie und ihre Kinder damals aus Srebrenica weggeschickt. «Wir dachten, wir sind in wenigen Tagen zurück, wenn die Spannungen nachlassen», so Lakota.

Portraitfoto von Nermina Lakota
Nermina Lakota, Einwohnerin von Srebrenica

Doch die Spannungen dauerten an. Lakota und ihre Familie flohen weiter nach Deutschland, wo sie auch am 11. Juli 1995 waren, als die bosnisch-serbischen Truppen Srebrenica übernahmen. Ihre Mutter floh in die Uno-Basis von Potočari, wie Lakota später von ihr erfuhr. Der Vater versteckte sich in einem Haus, der Bruder ging in den Wald. Von beiden fehlt bis heute jede Spur. Ihr Bruder, das erzählten ihr Überlebende, sei erschossen worden. Doch seine Knochen wurden bislang nicht gefunden. Der Vater sei von einem pensionierten serbischen Polizisten abgeholt worden und verschwunden.

Jahre später, nachdem Lakota nach Srebrenica zurückgekehrt war, sei sie dem Mann über den Weg gelaufen und habe ihn damit konfrontiert. «Danach hat er die Stadt verlassen, ich denke, er ist nach Serbien geflohen», sagt sie. In Abwesenheit wurde der Expolizist, er heisst Milislav G., von einem Gericht in Bosnien angeklagt, weil er «zusammen mit anderen Mitarbeitern der Armee und des Innenministeriums der Republika Srpska an der organisierten und systematischen Gefangennahme, Verletzung und Hinrichtung von Bosniaken teilgenommen und diese unterstützt» haben soll. Am 13. November 2009 hat das Gericht einen internationalen Haftbefehl gegen Milislav G. erlassen.

Ausgeliefert wurde er nie. Und das verweist auf ein ganz anderes Problem: das Ringen um Gerechtigkeit. Viele Serb:innen nehmen das Haager Tribunal als ungerecht wahr – nicht nur die älteren Generationen: Laut einer Erhebung der Youth Initiative for Human Rights (YIHR), die sich in den Ländern Exjugoslawiens für Versöhnung einsetzt, haben über 60 Prozent der befragten jungen Serb:innen eine negative Einstellung zum IStGHJ, wobei fast 41 Prozent glauben, dass dessen Hauptzweck darin bestanden habe, Serb:innen für Kriegsverbrechen verantwortlich zu machen. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass bosniakische Angeklagte wie Naser Orić, der zahlreiche Verbrechen an der serbischen Zivilbevölkerung im Umland von Srebrenica begangen haben soll, aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurden.

Die Grenze zu Serbien liegt nur etwa zehn Kilometer von Srebrenica entfernt. Dahinter hat der serbische Staat inzwischen seinen ganz eigenen Umgang mit den Kriegsverbrechern gefunden: Viele von ihnen sollen laut Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International dort untergetaucht sein. In Serbien würden Prozesse gegen die einstigen Kriegsakteure oft über Jahre verschleppt, sagt Branimir Djurović von YIHR in Belgrad. Und Srebrenica komme in den Geschichtsbüchern serbischer Schüler:innen ganz einfach nicht vor.

Djurović war denn auch wenig überrascht, als kurz nach dem Uno-Resolutionsbeschluss im Mai 2024 im Stadtzentrum von Belgrad ein riesiges Graffiti auftauchte, das besagt: «The only genocide in the Balkans was committed against the Serbs». Auf Englisch, gezeichnet von der «Volkspatrouille», einer rechtsextremen Hooligangruppierung. Entfernt wurde es bisher nicht. Genauso wenig wie die zahlreichen Murals im ganzen Land, die den Kriegsverbrechern Ratko Mladić und Radovan Karadžić huldigen.

Warum diese plakative Verweigerung, serbische Verbrechen anzuerkennen? «Auf serbischer Seite geht die Opferdarstellung meistens zurück auf den Zweiten Weltkrieg», sagt Ljiljana Radonić. Seit Jahren forscht sie in Wien am Institut für Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zur Erinnerungskultur im ehemaligen Jugoslawien. In Serbien werde etwa betont, dass die faschistischen Ustascha – bestehend aus Kroaten, aber auch Bosniaken – zwischen 1941 und 1945 einen Genozid an den Serb:innen verübt hätten. «Alle nationalistischen Tendenzen der neunziger Jahre, auf kroatischer, aber auch bosnischer Seite, werden nun als drohende neue Genozide verhandelt», sagt Radonić. Dass serbische Akteure in den jugoslawischen Zerfallskriegen selbst die grössten Verbrechen begangen hätten, werde vor diesem Hintergrund einerseits gerechtfertigt – und andererseits geleugnet. «Das passiert zum Teil von denselben Leuten im selben Kontext, im selben Gespräch», so Radonić.

Der pragmatische Bürgermeister

In der Republika Sprska werden bosniakische und serbische Schüler:innen extra für den Geschichtsunterricht getrennt und erhalten unterschiedliche Geschichtsbücher. Immerhin wurde die Leugnung des Völkermords von Srebrenica in Bosnien und Herzegowina 2021 per Dekret des Hohen Repräsentanten unter Strafe gestellt – die politische Führung der Republika Srpska unter Milorad Dodik weigert sich jedoch, das Gesetz anzuerkennen und umzusetzen.

Ein verrauchtes Café gegenüber dem Rathaus von Srebrenica; an einem Tisch sitzt Miloš Vučić (37), Karohemd, Hostelbesitzer, Cousin des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić und seit kurzem Bürgermeister von Srebrenica. Gesetze wie jenes des Hohen Repräsentanten würden die Gräben im kleinen Städtchen nur vertiefen und Misstrauen säen, sagt Vučić. «Es wäre viel geholfen, wenn sie uns in Bosnien die Probleme unter uns lösen liessen und uns den Umgang mit unserer Geschichte nicht von aussen diktierten.»

Portraitfoto von Miloš Vučić
Miloš Vučić, Bürgermeister von Srebrenica

Das entspricht dem Verständnis vieler, auch moderat nationalistischer Serb:innen: Ja, es seien Verbrechen begangen worden – aber von allen Seiten. Auch seine eigene Familie, sagt Vučić, sei während des Krieges aus Zentralbosnien vertrieben worden. Das Wort «Genozid» will er nicht in den Mund nehmen, am liebsten würde er gar nicht darüber reden. Ob das Gerücht stimme, wonach er in seinem Hostel jeweils die Preise um ein Vielfaches erhöhe, sobald die Gedenkanlässe zum 11. Juli sich näherten? «Klar», sagt Vučić. «So funktioniert der freie Markt.» Ausserdem sei er genervt davon, dass die Leute einzig für Gedenktourismus nach Srebrenica kämen und den Ort auf seine düstere Geschichte festnagelten.

Lieber verweist er auf seine erste Amtshandlung, nachdem er letzten Herbst ins Amt gewählt wurde. Er habe die Abgeordneten aller Parteien zusammengetrommelt und gesagt: «Lasst uns die Themen, die wir nicht lösen können, auf bessere Zeiten verschieben. Stattdessen kümmern wir uns zuerst um die Probleme, die alle betreffen – etwa die Trinkwasserversorgung.» Aufgrund der Klimaerwärmung werde das Wasser in der Region zunehmend knapp, erklärt Vučić, in einigen Gemeinden sei das Leitungswasser bereits nicht mehr trinkbar. «Wenn es kein Wasser gibt, haben weder Bosniaken noch Serben Wasser. Und wenn wir nicht wollen, dass dieser Ort zur Wüste wird, müssen wir das gemeinsam anpacken», sagt er. «Wenn das geschafft ist, dann können wir über die Vergangenheit sprechen.»

Dass das wie versprochen passieren wird, glauben die wenigsten Bosniak:innen in der Republika Srpska. Ohne Hilfe von aussen gäbe es wahrscheinlich nicht einmal die Gedenkstätte in Potočari, geben sie zu bedenken, und vielleicht hätten viele Geflüchtete nie nach Srebrenica zurückkehren können.

Wie angespannt die Lage noch immer sei, habe man schliesslich im vergangenen Frühjahr gesehen, sagt Kurator Azir Osmanović. Damals hatte Milorad Dodik angekündigt, die Sicherheitskräfte von Bosnien und Herzegowina aus der Republika Srpska hinauszuwerfen. «Wir mussten das Zentrum zwischenzeitlich schliessen, weil wir nicht wussten, wie es um die Sicherheitslage steht», erzählt er. Auch komme es jedes Jahr am 11. Juli zu Provokationen von serbischer Seite. Und an vielen Orten, an denen in der Region seit 1995 Massengräber entdeckt wurden, gebe es bis heute keine Gedenktafeln, weil sich die lokale Politik dagegen sperre.

«Ich gebe nicht den Serb:innen eine Kollektivschuld für das, was in den Neunzigern passiert ist», sagt Nermina Lakota. «Aber ich wünsche mir, dass alle – Kroaten, Bosniaken und Serben – sich hinstellen und sagen: Ich distanziere mich von den Verbrechen, die im Namen meines Volkes begangen wurden – anstatt sie zu vertuschen.» Erst dann, sagt Lakota, gebe es wirklich eine Chance auf Versöhnung.

* Korrigenda vom 10. Juli 2025: In der Bildlegende der Print- sowie der ursprünglichen Onlineversion wurde Branimir Kojić als Kurator der Gedenkstätte bezeichnet. Das stimmt nicht, Kojić ist Präsident des serbischen Opferverbandes von Srebrenica (SRNA).