China Miéville: «Tolkien kann nichts dafür, dass ihn die Faschisten lieben»
Der britische Schriftsteller China Miéville über schlechte Philosophie und andere Fehler der Linken – und warum er Labour als progressive Kraft für tot hält.
WOZ: China Miéville, am Anfang der linken Zeitschrift «Salvage», die Sie vor zehn Jahren mitgegründet haben, stand die Annahme, dass die britische Linke in Trümmern liege. Vor ein paar Wochen sind in London 150 000 Menschen bei einer rechtsextremen Demonstration auf die Strasse gegangen. Liegt heute auch die liberale Ordnung in Trümmern?
China Miéville: Mein Eindruck ist tatsächlich, dass die liberale Ordnung sich irgendwo zwischen einer starken Erschütterung und dem Kollaps befindet. Das hat sich über das vergangene Jahrzehnt abgezeichnet, aber ich bin überrascht von der Geschwindigkeit dieser Entwicklung. Ich war nicht überrascht, dass es zu einer rechtsextremen Demonstration in London kommen kann, aber ich war entsetzt über deren Grösse.
WOZ: In Ihrer politischen Philosophie betonen Sie, es sei wichtig, sich gerade auf solche unerwartete Entwicklungen einlassen zu können – dass man die Fähigkeit kultiviert, sich überraschen zu lassen. Wie ist das gemeint?
China Miéville: Es gibt zumindest in der englischsprachigen Linken eine furchtbare Tendenz der Alleswisserei – zu sagen: «Natürlich ist dieses schreckliche Ding passiert, und ich erklär dir auch, wieso.» Zu einem gewissen Grad kann ich den Impuls verstehen. Der Kapitalismus hat immer schon das alltägliche Leben unverständlich erscheinen lassen. Antworten und Erklärungen zu liefern, ist ein Weg, dagegen vorzugehen. Aber es gibt einen Unterschied zwischen kritischer Analyse und vorgefertigten Antworten.
Fantasy und Theorie
China Miéville, 1972 in Norwich geboren, schreibt Fantasy und Science-Fiction sowie Sachbücher zur politischen Theorie. Zu seinem fiktionalen Werk gehört die «Bas-Lag»-Trilogie mit den Romanen «Perdido Street Station» (2000), «Die Narbe» (2002) und «Der Eiserne Rat» (2004). Sein Roman «Die Stadt und die Stadt» (2009) wurde 2018 von der BBC als Miniserie verfilmt. Zuletzt erschien der Roman «Das Buch Anderswo» (2024), den Miéville zusammen mit dem Schauspieler Keanu Reeves geschrieben hat.
Bislang nicht auf Deutsch erschienen sind seine Sachbücher, darunter «October» (2017) über die Geschichte der Russischen Revolution und «A Spectre, Haunting» (2022), eine Auseinandersetzung mit dem Kommunistischen Manifest. 2015 hat Miéville die linke Zeitschrift «Salvage» mitgegründet und ist seither Teil der kollektiv geführten Redaktion.
Das Interview wurde am Rand der Jahreskonferenz der Zeitschrift «Historical Materialism» geführt, die im November an der Birkbeck University in London stattgefunden hat.
WOZ: Was meinen Sie mit vorgefertigten Antworten?
China Miéville: Bei «Salvage» versuchen wir, von einer Haltung der Bescheidenheit auszugehen. Das bedeutet in erster Linie zu akzeptieren, dass bei neuen Phänomenen, etwa dem angesprochenen Kollaps der liberalen Ordnung, vorgefertigte Antworten nicht mehr ausreichen, um sie zu verstehen. Wenn du die Welt nicht mehr verstehst, kannst du dich nicht auf das verlassen, was du zu wissen glaubst. Das ist einfach schlechte Philosophie. Um die Welt zu ändern, musst du die Welt verstehen.
WOZ: Haben Sie ein Beispiel?
China Miéville: Ein naheliegendes Beispiel ist die zweite Wahl von Donald Trump. Es war nicht unüblich für Linke, auf den Schock in der liberalen Mitte mit einem Schulterzucken zu reagieren und zu sagen: «War doch klar.» Aber ich erinnere mich, dass 2016 noch alle in der Linken allein schon die Möglichkeit einer Trump-Präsidentschaft als Lächerlichkeit abgetan haben. Eine solche sei ja aus strukturellen Gründen gar nicht denkbar. Wir müssen offen bleiben für Überraschungen, nicht nur aus intellektueller Redlichkeit – unsere Analyse muss immer auch bis zu einem gewissen Grad aus «Holy shit»-Erlebnissen erwachsen.
WOZ: Was war Ihr letztes «Holy shit»-Erlebnis?
China Miéville: Kürzlich sagte eine Politikerin von Reform UK, dass es zu viele schwarze und braune Gesichter im Fernsehen gebe. Dazu muss man wissen: Reform UK wird nicht als faschistische Partei wahrgenommen, sondern hat reale Chancen, die nächste Regierung zu bilden. Die Aussage löste eine mediale Debatte aus: Ist die Aussage rassistisch oder nicht? Eine solche Debatte über eine offenkundig rassistische Aussage wäre hier noch vor fünf Jahren nicht denkbar gewesen. Ich erinnere mich auch noch, wie wir in Grossbritannien die Plakate der SVP zur Minarettinitiative oder der Ausschaffungsinitiative gesehen haben. Wir alle dachten: «Holy fucking shit.» Wenn man als Linker aufwächst, lernt man, Rassismen zu decodieren. Dieser doppelte Boden ist weg, der Rassismus zirkuliert heute offen im öffentlichen Diskurs.
WOZ: Eigentlich ist die Linke in Grossbritannien mit Labour und Premierminister Keir Starmer nominell an der Macht, aber Labour kriselt. Von links bringen sich die Green Party und Your Party, die neue Partei von Jeremy Corbyn, in Stellung …
(Rollt die Augen.) Ich bin ein Mitglied von Your Party, und jedes Mal, wenn ich diesen Namen höre, ertrage ich es kaum – was für ein dummer Name.
WOZ: Wir wollten eigentlich fragen: Was ist Ihr Verhältnis zu Labour?
China Miéville: Ich muss vorwegschicken, dass die jüngere Geschichte gezeigt hat, dass sich vieles schnell ändern kann. Das müssen Sie im Hinterkopf haben, wenn ich sage, dass die kritischen und analytischen Mittel, die mir zur Verfügung stehen, nur einen Schluss zulassen: Labour als progressive Kraft ist tot.
WOZ: Wie kommen Sie darauf?
China Miéville: Ganz allgemein bin ich nicht mit der Richtung einverstanden, die die Partei in den vergangenen Jahren eingeschlagen hat. Aber selbst wenn man sie an ihren eigenen Massstäben misst, setzt sie ihre Agenda sehr ungeschickt und schlecht um. Ich hatte noch nie so sehr das Gefühl, dass wir in nächster Zeit in Grossbritannien das Ende der Labour Party und womöglich auch der Conservative Party als Massenparteien beobachten werden.
WOZ: Corbyns Your Party ist allerdings zerstritten und die Green Party weit davon entfernt, die Lücke, die Labour hinterlässt, füllen zu können. Ist der parlamentarische Weg für Sie und das «Salvage»-Kollektiv überhaupt noch eine Priorität?
China Miéville: Wir alle haben mehr oder weniger lange Parteivergangenheiten und sehnen uns nach einer Form von Parteiorganisation, weil diese immer noch die beste – oder am wenigsten schlechte – Art zu sein scheint, politische Ziele zu erreichen. Es wäre irrsinnig, die Arena der parlamentarischen Politik zu ignorieren. Aber selbst wenn wir wieder eine linke Massenbewegung ins Parlament kriegen, wäre das Dümmste, was wir tun können, den Fokus auf ausserparlamentarische Arbeit zu verlieren, wie wir das in der Vergangenheit immer wieder getan haben.
WOZ: Sie arbeiten zu marxistischer Philosophie, schreiben aber auch Science-Fiction und Fantasy – beides Traditionen mit einem grossen Bewusstsein ihrer Geschichte. Was bedeutet es für Sie, sich darin zu verorten?
China Miéville: Für mich ist Tradition nicht eine Linie, die ich einfach fortsetze, indem ich Gattungsvorgaben befolge. Stattdessen verstehe ich Traditionen als etwas Lebendiges. Der Umgang mit Gattungsvorgaben hat sich immer mehr wie das Spiel mit Spielzeugen angefühlt. Natürlich gibt es Leute, die bei Texten darüber streiten, ob es sich um Fantasy oder Science-Fiction handle: Nerds gonna nerd. Die Herausforderung für mich ist, diese Spielzeuge aufzugreifen, sie zu ehren, aber auch neue, unerwartete Dinge mit ihnen zu tun.
WOZ: Und wie sieht das Spiel mit der marxistischen Philosophie aus?
China Miéville: Dort ist die Fallhöhe grösser. Es geht dort weniger ums Spielen als um wichtige politische Interventionen und Fragen wie: Ist das richtig? Ist das falsch? Und wenn es falsch ist, ist es vielleicht auf nützliche Weise falsch? Bei «Salvage» haben wir eine Beziehung zur marxistischen Tradition entwickelt, die dem Modell von Walter Benjamins «Engel der Geschichte» folgt: Wir schauen zurück auf den Trümmerhaufen der Geschichte, in unserem Fall die Kritische und die marxistische Theorie, und versuchen, zu bergen oder umzudeuten, was sich beizubehalten lohnt.
WOZ: Auch die extreme Rechte und ihre Oligarchen deuten um, sie spielen mit den Motiven von Science-Fiction und Fantasy. Peter Thiel hat sein Überwachungsunternehmen Palantir nach den sehenden Steinen aus «Herr der Ringe» benannt. Wie setzen Sie sich als linker Fantasyschriftsteller damit auseinander?
China Miéville: Ich bin davon weniger beunruhigt als andere. Mich beunruhigt, dass es ein Unternehmen wie Palantir gibt, nicht, auf welches Werk sich der Name bezieht. Weil Oligarchen wie Thiel oder Elon Musk heute so mächtig und sichtbar sind, haben wir aber das Gefühl, dass es sich um ein neues Problem handelt. Das überzeugt mich nicht. Das Beziehungsgeflecht zwischen Schriftsteller, Verlagswesen, Leser:innenschaft und Kulturindustrie war nie gradlinig. Es ist nicht möglich, als Schriftsteller die Rezeption deines Werkes zu steuern. Ich habe auch Kritik an Tolkien, aber es ist wahrscheinlich unfair, ihm die Schuld dafür zu geben, dass Faschisten ihn so sehr mögen.
WOZ: Aber beunruhigt es Sie nicht, dass diese neuen Oligarchen in Science-Fiction Handlungsanweisungen suchen und auf den Mars verschwinden wollen, um uns in den Ruinen der Erde zurückzulassen?
China Miéville: Die würden die abscheulichen Dinge, die sie tun, auch ohne Verweis auf Science-Fiction tun. Einem Text lässt sich auch immer eine Bedeutung abringen, der er sich eigentlich zu verweigern sucht – auch im positiven Sinn. Ich erinnere mich an einen Artikel über queere Jugendliche, die in den Neunzigern in Untergrund-Ragga-Clubs von London zu «Boom Bye Bye» getanzt haben, einem unglaublich homophoben Song. Sollen wir den Jugendlichen erklären, dass sie den Song politisch missverstehen? Science-Fiction ist nicht dafür verantwortlich, was mit ihr politisch gemacht wird. Als Gattung gehört sie nun mal zum kulturellen Schnickschnack, der um uns herumschwebt.
WOZ: Welche Rolle kann dann Science-Fiction für die Linke spielen?
China Miéville: Diese Frage wird mir oft gestellt, und ich habe leider eine eher unbefriedigende Antwort. Nicht weil ich Science-Fiction nicht lieben würde oder kein Linker wäre, sondern weil ich nicht glaube, dass Kultur so funktioniert.
WOZ: Wie meinen Sie das?
China Miéville: Wenn Leute über die Rolle von Science-Fiction sprechen oder gar über deren politisches Potenzial oder ihre Rolle für die Linke, dann ist das für mich ein Kategorienfehler. Wenn jemand eines meiner Bücher liest und zur radikalen Linken bekehrt wird, freut mich das. Das kann aber nicht das Ziel sein. Denn daraus würde folgen, dass meine Bücher jedes Mal scheitern, wenn jemand nach der Lektüre kein radikaler Linker wird. Darf ich Ihnen eine Anekdote erzählen?
WOZ: Bitte.
China Miéville: Ich verbinde einen der prägendsten politischen Momente meines Lebens mit der britischen Kinderbuchautorin und Illustratorin Beatrix Potter. Ihr Werk beinhaltet wunderschöne Illustrationen anthropomorpher Tiere – sehr englisch, sehr klassisch, sehr höflich, sehr beschaulich. Im Buch «The Tale of Mr. Jeremy Fisher» gibt es dieses Bild von Jeremy, dem Frosch, wie er auf einer Seerose sitzt, während sich unter ihm ein monströser Fisch nähert. Das ist eines der politisierendsten Bilder, die ich in meinem Leben gesehen habe. Ich bin dem zum ersten Mal begegnet, als ich etwa sechs war, und ich denke heute noch immer und immer wieder daran. Aber die Vorstellung, dass sich wegen meines persönlichen Interesses an diesem Bild eine Funktion für Beatrix Potters Werk in der Linken ergeben soll, ergibt keinen Sinn für mich.
WOZ: Hat Kultur also gar keine politische Bedeutung?
China Miéville: Ich fühle mich bei dieser Frage immer etwas schuldig, weil es so klingt, als würde ich sagen: «Kultur ist albern und bedeutet nichts.» Das ist natürlich überhaupt nicht meine Meinung. Ich glaube nur nicht, dass wir auf der Ebene der kulturellen Produktion über politische Interventionen sprechen. Wenn Leute das, was sie kulturell umgibt, verwenden und sich damit motivieren, am Morgen aufzustehen oder gar die Welt zu verändern, dann finde ich das sehr berührend. Wenn sie das nicht tun, ist das aber weder ihr eigener noch der Fehler des Werks.
WOZ: Gleichzeitig nimmt die Darstellung des Politischen in Ihrem Werk eine zentrale Rolle ein. «Der Eiserne Rat» etwa ist ein Roman über eine militante Arbeiter:innenorganisation und den Widerstand gegen ein autoritäres Regime. Es scheint klar, dass Ihnen diese Repräsentation von linker Politik viel bedeutet.
China Miéville: Das ist kein Widerspruch zu dem, was ich vorhin gesagt habe. Ich denke die ganze Zeit über Politik nach, und natürlich fliesst das in meine Bücher ein. «Der Eiserne Rat» ist für mich ein sehr politisches Werk, aber es ist immer noch Fiktion. Ich vermute hinter dem angesprochenen Kategorienfehler einen verzweifelten Versuch der Linken, irgendwie Einfluss zu nehmen. Die allgemeine Leser:innenschaft entspricht nicht der Leser:innenschaft, die meine Romane aufgrund ihrer politischen Haltung liest.
WOZ: Läuft man dann aber nicht Gefahr, ideologisierte Erzählungen zu übersehen? Marvel-Filme etwa konditionieren darauf, Gewalt gegen gesichtslose Horden von aussen zu heroisieren.
China Miéville: Ich störe mich am Verb «konditionieren». Ich habe verschiedene Superheldenfilme gesehen und möchte nicht gesichtslose Horden bekämpfen, was für die meisten gilt, die Marvel-Filme gesehen haben. Die von Ihnen angesprochene Konditionierung hätte also kläglich versagt. Was nicht heisst, dass es nicht wichtig ist und Spass macht, Leuten vorzuhalten, dass ihr Lieblingsfilm faschistisch ist (lacht). Aber Rassismus lässt sich nicht bekämpfen, indem man einfach einen Film wie «American Sniper» als das beschreibt, was er ist: ein widerliches, reaktionäres Werk. Am Ende ist die Frage nicht, warum die Kulturindustrie Werke produziert, die einer gewissen politischen Agenda folgen, sondern wieso und auf welche Art solche Werke in einem sozialen Kontext verankert sind. Deswegen faszinieren mich auch «guilty pleasures».
WOZ: Was ist Ihr «guilty pleasure»?
China Miéville: Es ist kein Lieblingsfilm von mir, aber «A Quiet Place» von 2018 zum Beispiel ist ein wirklich guter Horrorfilm. Er ist aber auch tief verbunden mit einer gewissen Ideologie von Familie und Heimstatt, von muskulösem Paternalismus. Es ist ein sehr reaktionärer, sehr guter Film. Und Ihre?
WOZ: Wohl am ehesten James-Bond-Filme.
China Miéville: Was ist Ihr liebster Bond-Film?
WOZ: Vielleicht «Tomorrow Never Dies» – der ist sehr unterhaltsam.
China Miéville: Das ist der, in dem Bond einen Medienmogul stoppen muss, der die Fäden in der Geopolitik in den Händen hat? Dort geht es um Paranoia, das ist fast schon eine QAnon-Fantasie. Aber genau das ist der Punkt: Es ist nicht meine moralische Pflicht als Linker, niemals Filme mit schlechter Politik zu schauen. Übrigens, mein Bond-«hot take»: Timothy Dalton ist der beste Bond, weil er ihn als Psychopathen spielt.
WOZ: In den vergangenen Jahrzehnten ist die Fantastik Mainstream geworden. Wie hat sich Ihr Verhältnis zur Gattung dadurch verändert?
China Miéville: Ich bin froh, dass es weniger Genresnobismus als früher gibt. Es ist gut, dass es heute, wegen eines Generationenwechsels und toller Werke, nicht mehr ungewöhnlich ist, dass nichtrealistische Werke für Literaturpreise nominiert werden. Wie in jedem literarischen Feld kam mit dem Erfolg aber auch eine Lawine an Müll. Immer wenn etwas zur kulturell angesagten Ware wird, verhalten sich Verlage wie Herdentiere – so wie es im Kapitalismus nun einmal ist. Niemand zwingt mich, das zu lesen, aber etwas beschäftigt mich schon: die Kommodifizierung von Fanservice.
WOZ: Was meinen Sie damit?
China Miéville: Das betrifft nicht nur Fantasy oder Science-Fiction, aber ich sehe, dass immer mehr parasoziale Beziehungen gefördert werden – nicht nur zu Schauspieler:innen, sondern auch zu Filmen oder Büchern selbst: Ich gehe den nächsten Marvel-Film schauen, nicht nur weil ich Spiderman als Freund betrachte, sondern weil ich eine freundschaftliche Beziehung zum Franchise aufgebaut habe. Ich will nicht wie ein alter Knacker klingen und bin nicht sicher, ob das wirklich stimmt: Aber ich glaube, dass Social-Media-Konzerne und der Kapitalismus den Zusammenbruch der Fähigkeit bewirken, beurteilen zu können, ob und was uns gefällt und was nicht.
WOZ: Sie schreiben neben Science-Fiction und politischen Essays auch Sachbücher und Jugendromane. Wie wichtig ist es für Sie, in unterschiedlichen Gattungen und in unterschiedlicher Komplexität zu schreiben?
China Miéville: Ich habe immer gerne in unterschiedlichen Genres geschrieben. Was die Komplexität angeht, liegt das im Auge der Leser:innen: Als ich «A Spectre, Haunting» veröffentlicht habe, erhielt ich aus gewissen Kreisen den Vorwurf, ich hätte ein Buch über das Kommunistische Manifest geschrieben, das Arbeiter:innen nicht verstehen könnten. Ich glaube, dass das eine Projektion ist, aber es spricht daraus auch eine grössere Entwicklung. Wir alle sind durch Jahrzehnte im Neoliberalismus so gezeichnet worden, dass etwas, das herausfordert oder zur genaueren Auseinandersetzung einlädt, sich wie eine Provokation oder Hohn anfühlen kann. Es ist natürlich wichtig, komplizierte Ideen so klar wie möglich zu kommunizieren. Die Idee aber, die ich in linken Milieus verspüre – dass alles, was kompliziert ist und Verständnisarbeit erfordert, gewissermassen gescheitert ist –, finde ich bevormundend. Diese Auffassung unterschätzt das Potenzial, dass die Auseinandersetzung mit fordernden Texten politisch befreiend sein kann.
WOZ: Zu Beginn haben Sie vom Kollaps der liberalen Ordnung gesprochen. Das Ende des Neoliberalismus wurde seit 2008 bereits mehrfach verkündet. Mit was haben wir es heute zu tun: einem Zombie, einem Vampir?
China Miéville: Ich weiss nicht, mit was wir es zu tun haben, aber ich bin auch weniger an dieser Diskussion interessiert als andere. Das, was wir heute sehen, ist etwas anderes als Neoliberalismus, wie ich ihn definieren würde. Quinn Slobodian hingegen hat in seinem Buch «Hayek’s Bastards» ein sehr starkes Argument dafür gefunden, dass rassistische Ideologie durchaus mit Schlüsselpositionen des Neoliberalismus vereinbar ist. Nennen Sie es so, wie Sie wollen. Für mich war und ist es Kapitalismus, wenn auch zu einem spezifischen historischen Zeitpunkt und in immer dekadenterer Erscheinungsform.
WOZ: Einer der Slogans aus der Gründungsphase von «Salvage» war: «Hoffnung ist rar. Wir müssen sparsam damit umgehen.» Haben Sie noch Hoffnung zum Rationieren?
China Miéville: Genau das ist die Stärke der marxistischen Tradition. Kapitalismus funktioniert über die Abschöpfung von Mehrwert, der durch Ausbeutung produziert wird. Das geht über ein enges Verständnis von Klasse – als industriell, weiss, männlich und so weiter – hinaus. Solange es körperlich möglich ist, den Kapitalismus entlang aller Achsen der Unterdrückung und Ausbeutung zu attackieren, ziehe ich daraus Hoffnung.