Neue Partei in England: Zerstritten gegen rechts
Während die extreme Rechte in Grossbritannien immer mehr an Boden gewinnt, droht die Linke eine historische Chance zu verspielen.

Es ist nicht so, als hätte es keine Warnungen gegeben. Der Aufstieg der radikalen Rechten in Grossbritannien war in den vergangenen Jahren überall zu sehen: an der Wahlurne, in den Medien, auf der Strasse. Im Juli 2024 gewann die Rechtsaussenpartei Reform UK von Nigel Farage mehr als vier Millionen Stimmen; in Umfragen ist sie seither mit rund dreissig Prozent zur stärksten Partei geworden. Kräftige Unterstützung erhält Farage von einflussreichen Journalist:innen. Die tonangebende rechte Presse legitimiert Reform UK als respektable Partei, während Hetze gegen Migrant:innen und Asylsuchende ein fester Teil der Berichterstattung geworden ist. Gleichzeitig zeigen sich rechte Aktivistinnen und Krawallmacher immer selbstbewusster in der Öffentlichkeit. In den vergangenen Monaten haben sie regelmässig Proteste vor Asylunterkünften organisiert und Migrant:innen eingeschüchtert.
Und dennoch war der Grossaufmarsch der Rechten am 13. September ein Schock. Geschätzte 150 000 Menschen zogen durch das Zentrum von London, mit Englandflaggen, Union Jacks und rassistischen Parolen. Es kamen deutlich mehr Protestierende, als es antifaschistische Gruppen und die Polizei erwartet hatten. Die Antirassismuskampagne Hope not Hate hat keine Zweifel: Es war der grösste rechtsextreme Protest in der britischen Geschichte. Die Gegendemonstration war demgegenüber mit maximal 20 000 Teilnehmer:innen ziemlich überschaubar.
Eine neue, linke Partei?
Genau das ist das Beunruhigende am Vormarsch der Extremist:innen: Die Kräfte, die sich ihm entgegenstellen, sind zu wenig organisiert und zu wenig stark. In Westminster sind sie praktisch ganz abwesend. Die Labour-Regierung könnte beispielsweise versuchen, die eskalierende Migrationsfeindlichkeit einzudämmen, indem sie eine positive Geschichte über Einwanderung erzählt. Oder sie könnte anstreben, das Leben der Menschen materiell zu verbessern, um den Rechten die Grundlage für ihre Propaganda zu entziehen. Denn wenn die Lebenskosten stetig ansteigen, der Gesundheitsdienst überlastet ist und der Wohnraum knapp und überteuert, haben Demagog:innen leichtes Spiel, den Frust der Leute auf marginalisierte Bevölkerungsgruppen zu lenken.
Aber Labour unter Keir Starmer macht das Gegenteil. Wie die rechte Konkurrenz bemüht sich die Regierung, die Ankunft von Geflüchteten an der englischen Küste zu einer grossen Krise zu stilisieren. «Ohne strenge Migrationsregeln drohen wir zu einer Insel von Fremden zu werden», hatte Starmer im Mai verkündet. Er hat seit seinem Amtsantritt mehrere Asylverschärfungen verfügt und sagte: «Wer illegal ins Land kommt, wird zurück nach Frankreich geschickt.» Unterdessen kürzt er den Sozialstaat weiter zusammen, und jede Investition, die für die Menschen eine spürbare Verbesserung ihrer Lebensumstände bringen würde, wird mit Verweis auf die übermässige Staatsverschuldung ausgeschlossen.
Umso dringlicher ist ein Projekt geworden, über das die britische Linke seit Jahren debattiert: eine neue Partei, explizit antirassistisch, die die Interessen der Lohnabhängigen an die erste Stelle setzt – das heisst: eine progressive Alternative zum Status quo, der so viele Brit:innen im Stich lässt.
Bis vor kurzem sah es diesbezüglich vielversprechend aus. Ende Juli kam die lang erwartete Ankündigung, dass ein neues linkes Wahlvehikel lanciert wird. Die 31-jährige Unterhausabgeordnete Zarah Sultana, eine wortgewandte und schlagfertige ehemalige Labour-Politikerin, machte bekannt, dass sie zusammen mit dem Ex-Labour-Chef Jeremy Corbyn eine neue Partei anführen werde. Auch vier weitere unabhängige Abgeordnete, die im Juli 2024 gewählt worden waren, sollten Teil des Projekts sein. Das Schwergewicht der Partei sollte an der Basis liegen und «in unseren Communitys, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen» verwurzelt sein.
Wut auf den «Boy’s Club»
Schnell zeigte sich, dass es für eine solche Wahlalternative einen riesigen Enthusiasmus im Land gibt. Besonders die versprochene Graswurzelorientierung hat Tausende Leute mobilisiert. In Dutzenden Gemeinden, vom südlichen Portsmouth bis nach Blackpool im Norden, organisierten lokale Aktivist:innen spontan Basistreffen. Menschen aus Wohnkampagnen, Gewerkschaften, Antirassismusgruppen und der Palästinasolidaritätsbewegung fanden sich zusammen, um über ihre Wünsche an die neue Partei zu debattieren, Netzwerke zu stricken und die nächsten Schritte zu besprechen. Über 800 000 Leute meldeten sich für die Mailingliste der sich formierenden Partei an – als Platzhalter wurde sie «Your Party» genannt.
Aber ebenso schnell zeigte sich auch, dass es oben rumorte. Aus dem Umfeld des Gründungskomitees sickerten Berichte durch, laut denen hart um Personalien und Zuständigkeiten gestritten wurde. Dem Gründungsprozess fehlte die Transparenz, und zwischen den angehenden Ko-Chef:innen, Sultana und Corbyn, hatte sich ein Graben aufgetan, der immer tiefer wurde. Vergangene Woche schliesslich knallte es, der Streit eskalierte in aller Öffentlichkeit.
Die Details sind ziemlich konfus. Es geht vordergründig um die Frage, wer auf die Mailingliste Zugriff hat und wer das über Mitgliederbeiträge eingenommene Geld kontrolliert. Am Donnerstag verschickte Sultanas Team ein E-Mail mit einem Link, über den man sich als Parteimitglied anmelden konnte. Kurz darauf meldeten sich Corbyn und die anderen vier unabhängigen Abgeordneten mit einem scharfen Dementi: Das Mitgliederportal sei noch nicht eröffnet, das E-Mail solle ignoriert werden. Daraufhin publizierte Sultana ein noch wütenderes Statement, in dem sie sich über den «sexistischen Boy’s Club» aufregte, der sie von der Kontrolle der Partei ausschliessen wolle. Der mutmassliche Boy’s Club beschuldigte Sultana dann, gegen die Datenschutzgesetze verstossen zu haben, man werde Anwält:innen einschalten. Und Sultana wiederum konterte, das sei Verleumdung, auch sie werde Anwält:innen einschalten.
Es ist, mit anderen Worten, ein totales Debakel. Bevor die neue Partei überhaupt existiert, droht sie schon wieder Geschichte zu werden. Selbst für die notorisch zerstrittene Linke ist dies ein Novum. In linken Publikationen wurden schon Nachrufe auf die Partei verfasst, und in den sozialen Medien und den Whatsapp-Chats von Your-Party-Gruppen schlägt bittere Enttäuschung durch: Die Hoffnung von Hunderttausenden auf eine bessere Politik – eine Politik von unten – ist durch Gezänk in der Führungsetage begraben worden.
Noch ist nicht alles verloren. Trotz des Hickhacks zwischen den angehenden Chef:innen will die Basis nicht aufgeben. Die ersten lokalen Treffen haben schliesslich schon stattgefunden – das sei eine Grundlage, auf der sich etwas aufbauen lasse, sagen viele. Auf jeden Fall arbeiten etliche lokale Gruppen daran, den Gründungsprozess weiterzuführen, mit oder ohne Corbyn und Sultana. Zuletzt hörte man von diesen zwei auch versöhnlichere Worte: Beide sagen, sie würden alles daransetzen, die Partei doch noch auf die Beine zu stellen. Die erste Konferenz im November soll auf jeden Fall stattfinden.
Rebellische Grüne
Es gibt noch einen weiteren Lichtblick: die Grünen. Nach ihrem Durchbruch im Juli 2024, als die Partei vier Sitze eroberte, blieb sie zunächst enttäuschend blass. Sie schien sich im geordneten Parlamentsbetrieb wohlzufühlen, machte ganz auf brav und wurde darum kaum bemerkt. Aber das hat sich vor einigen Wochen geändert. Mit der Wahl von Zack Polanski zum Parteivorsitzenden Anfang September haben die Grünen eine rebellische Energie gefunden.
«Wieso ist alles so scheisse?», fragte Polanski in einer Videobotschaft nach seinem Sieg. Die Reichen würden immer reicher, die Armen ärmer und die öffentlichen Dienstleistungen immer schlechter. Polanski, ein 42-jähriger Abgeordneter im Londoner Regionalparlament, beschreibt seine Politik als «Ökopopulismus». Unter anderem fordert er eine Reichensteuer, die Wiederverstaatlichung der Wasser- und Energieversorgung und Mietpreiskontrollen. Sein Kommunikationsstil ist frech und konfrontativ, und er weiss, wie man soziale Medien einsetzt, um eine Botschaft an die Leute zu bringen. Seit seiner Kandidatur haben die Grünen Tausende Neumitglieder gewonnen, heute sind es mehr als 75 000.
Dass Polanski derzeit so viel Wirbel verursacht, liegt auch daran, dass er den Finger auf die unmittelbaren, konkreten Probleme der Leute legt. Gern ist er in der Öffentlichkeit unterwegs, begleitet von einer Kamera, um das Gespräch mit Durchschnittsbürger:innen zu suchen. Er spricht über hohe Mieten, Wartezeiten im Spital, teure Lebensmittel – und eben darüber, warum das alles so scheisse ist. «Wir dürfen dafür nicht die Migranten verantwortlich machen», sagte er in einem Fernsehinterview. «Anstatt auf die Bootsflüchtlinge zu zeigen, sollten wir auf die Privatjets zeigen, die Privatjachten, auf die Multimillionäre und -milliardäre.» Das Problem sei die Ungleichheit und die Tatsache, dass die Politiker:innen der etablierten Parteien – auch die von Reform UK – im Interesse der grossen Konzerne handeln würden.
Solche Gespräche, die zeitraubende Basisarbeit in den Kommunen, das müsse die Antwort auf die rechtsradikale Demo von vorletzter Woche sein, sagte Polanski. Es gebe keinen anderen Weg, um den politischen Boden von der radikalen Rechten zurückzuerobern.