Veteran:innen in der Ukraine: Das eigene Leben von aussen betrachten
Depressionen, Schlaf- und Hoffnungslosigkeit: In Kyjiw versuchen Therapeutinnen und Ärzte, mit ketamingestützter Psychotherapie gegen die Folgen des Krieges anzukämpfen.
Als Wladislaw Matrenitsky zur Begrüssung die Hand reicht, ist sie spürbar kalt. In einer beiläufigen Bewegung wirft er sich die Jacke und den weissen Arztkittel über die Schulter, als würde er gerade das Haus verlassen. Nur dass er bleibt. Kurz vor dem Wintereinbruch gibt es in der Kyjiwer Klinik, die der 62-Jährige leitet, noch immer keine funktionierende Heizung. In den Räumen hat es fünfzehn, vielleicht sechzehn Grad, sauber gefaltete Fleece- und Wolldecken liegen in den Behandlungszimmern für die Patient:innen bereit. «Gäbe es nicht auch noch das Problem mit der Stromversorgung, könnten wir mit Elektroheizungen durchkommen», sagt Matrenitsky. Doch die systematischen russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur im ganzen Land lassen das nicht zu.
Der Arzt geht an einigen Patient:innen mit hellblauen Einwegschuhüberziehern vorbei, öffnet die Tür zu einem schlichten Kabinettbüro und setzt sich an seinen Schreibtisch. Vor ihm liegen Stapel handbeschriebener Papiere, daneben steht ein Laptop, an der Wand ist ein Waschbecken befestigt. Hin und wieder zieht ein feiner Luftzug durch den Raum. Seit den kürzlichen Einschlägen ganz in der Nähe sitzen die Fenster locker in den Rahmen, sagt Matrenitsky nüchtern, beinahe technisch, als spreche er über Materialermüdung. Ein paar Strassen weiter, ebenfalls im Kyjiwer Viertel Podil, befindet sich eine andere medizinische Einrichtung. Sie liegt mittlerweile in Trümmern.
Zugang zum Unterbewussten
Matrenitsky leitet eine der wenigen Kliniken des Landes, die spezialisierte Behandlungen für therapieresistente psychische Erkrankungen anbieten – für Fälle also, in denen die Symptome trotz Medikamenten und Therapie bestehen bleiben oder sich verschlimmern. «Unser Hauptgebiet ist die Psychotherapie», sagt er. Sein Team hat mit Depressionen, posttraumatischen Belastungs- (PTBS) und Angststörungen sowie psychosomatischen Problemen zu tun. Zur Behandlung setzt Matrenitsky dabei unter anderem Ketamin ein, das in der Medizin als Anästhetikum verwendet wird – und vielerorts noch hauptsächlich als Clubdroge gilt. Eine Assoziation, die der Mediziner immer wieder ausräumen muss. «Ketamin öffnet den Zugang zu Bereichen, die in der regulären Therapie verschlossen bleiben», sagt er. Vor allem Menschen mit grossem Kontrollbedürfnis blockierten oft den Zugang zum eigenen Unterbewussten. «Psychedelika können diesen Zugang öffnen», so Matrenitsky.
Grosse Gesten in Berlin
Es war ein Tag der grossen Gesten: Als der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski, seine europäischen Verbündeten und die beiden US-Vertreter am Montagabend für das Gruppenfoto posierten, wollten sie den Eindruck erwecken, in Berlin sei Geschichte geschrieben worden. Die USA hätten «wirklich beachtliche» Sicherheitsgarantien auf den Tisch gelegt, verkündete Deutschlands Kanzler Friedrich Merz, und eine «multinationale Truppe» werde die Ukraine vor künftiger russischer Aggression schützen.
Was auf den ersten Blick nach Fortschritt klingt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als wenig konkret. Der heikelste Punkt, die Abtretung des von der Ukraine gehaltenen Teils des Donbas, wurde in dem zweitägigen Gesprächsmarathon ausgeklammert. Und der Kreml sass in Berlin zwar nicht mit am Tisch, einer von Merz geforderten weihnächtlichen Waffenruhe erteilte er allerdings gleich eine Absage. Ein weiterer Höhepunkt der «Schicksalswoche» folgt am Erscheinungstag dieser WOZ: Dann sollen die EU-Staaten darüber befinden, ob die Ukraine ein «Reparationsdarlehen» aus russischem Zentralbankvermögen erhält.
Seit der Eröffnung der Klinik im Jahr 2018 hat er in insgesamt mehr als tausend Sitzungen über 300 Patient:innen behandelt. Eine Behandlung dauert rund vierzig Minuten; während Ketamin intravenös verabreicht wird, führt der Therapeut ein Gespräch. Ketamin, sagt Matrenitsky, bringe keine Suchtgefahr mit sich. «Um eine Abhängigkeit zu entwickeln, müsste man es ein halbes Jahr lang täglich einnehmen. Unsere Therapie umfasst sechs bis zehn Sitzungen.»
Vor allem in der Ukraine, wo der Krieg auch eine Krise der mentalen Gesundheit ausgelöst hat und Millionen Menschen psychische Unterstützung benötigen, sehen Ärzt:innen wie Matrenitsky den Moment gekommen, neue therapeutische Ansätze zu erproben und die Forschung voranzutreiben, vor allem angesichts der wachsenden Anzahl von Soldatinnen und Veteranen. Laut dem Ministerium für Veteranenangelegenheiten wird die Ukraine nach Kriegsende bis zu fünf Millionen Veteran:innen und ihre Familien wieder in die Gesellschaft integrieren müssen.
Gerade unter denen, die gekämpft haben, wird PTBS häufig diagnostiziert. «Es ist ein Zustand erhöhter Wachsamkeit. Sie reagieren empfindlich auf alles, was sie an gewisse Ereignisse erinnert», erklärt Matrenitsky. Zu den Symptomen zählen Flashbacks, Albträume, das erneute Durchleben von erlebten Episoden, Schlaflosigkeit und das Vermeiden sozialer Kontakte. «Das Problem ist: Nur wenige verstehen, was mit ihnen passiert.» Viele versuchten, sich selbst zu helfen. Mit Alkohol, mit Rückzug. Doch je chronischer die PTBS, desto schwerer sei sie zu behandeln.
Auch in seiner eigenen Klinik werden inzwischen immer mehr Veteran:innen behandelt. Einige seiner Patient:innen seien aktive Soldat:innen gewesen, sagt er, Menschen, die während ihres Einsatzes zu ihm kamen – und danach wieder an die Front mussten. «Dabei erleben sie wieder Stress, wieder eine grosse Belastung. Aber sie werden widerstandsfähiger», sagt Matrenitsky. «Sie brechen nicht mehr so schnell zusammen.»
Am staatlichen Zentrum für psychische Gesundheit und Veteranenrehabilitation Lisowa Poljana wurde im vergangenen Jahr eine Studie zu ketaminunterstützter Psychotherapie für Veteran:innen durchgeführt. Die Forscher:innen begleiteten 27 Veteran:innen, die – ähnlich wie viele von Matrenitskys Patient:innen – unter therapieresistenter Depression und posttraumatischer Belastungsstörung litten. Der Behandlungsansatz bestand aus ein bis vier Ketamininfusionen, kombiniert mit Therapiesitzungen. Bei der Mehrheit gingen die Depressions- und PTBS-Symptome anschliessend signifikant zurück. Mehr als die Hälfte erreichte eine spürbare klinische Verbesserung oder gar eine Remission, ein Verschwinden der Symptome also. Und die positiven Effekte hielten mindestens einen Monat nach der letzten Infusion an. Bei rund einem Viertel der Teilnehmenden wiederum veränderte sich der Zustand kaum oder verschlechterte sich leicht.
Olesia Kotliarowa, blonde, schulterlange Haare, schwarze Lederjacke, ist eine von jenen, bei denen die Behandlung Wirkung gezeigt hat. Die 33-Jährige schlendert mit ihrem Hund durch die Innenhöfe der neu gebauten Anlage am Stadtrand von Kyjiw, in der sie wohnt. Tausende Familien sind in den letzten Jahren hierhergezogen. Zwischen den Häusern: Cafés, kleine Läden, Restaurants, ein Schwimmbad, Fitnessklubs. Ein idealer Ort zum Leben, sagt Kotliarowa. «Ruhig und friedlich, man kann arbeiten, manchmal gibt es Konzerte, es gibt Keller, in denen man sich verstecken kann, alles ist durchdacht, alles ist toll.» Doch in dem Moment, als sie ihre erste eigene Wohnung im Komplex kaufte, spürte sie, dass etwas nicht stimmte. «Ich hatte keine Emotionen mehr in mir, konnte mich nicht mehr freuen.»
Der Krieg hat Kotliarowas Leben schon im Jahr 2014 für immer verändert. Damals zog die junge Frau, die zuvor bei der Revolution auf dem Maidan politisch aktiv gewesen war, gemeinsam mit ihrer Schwester Kateryna an die Front. Beim Freiwilligenbataillon, dem sie sich anschloss, erlebte sie Situationen, die sie bis heute begleiten. «Einmal waren wir umzingelt, ohne es zu wissen. Danach haben wir SMS erhalten, dass mehr als achtzig unserer Leute erschossen wurden.» Nach dreizehn Monaten im Kampf wurde sie ins Zivilleben zurückgeschickt. Überfordert, ohne Halt. «Damals gab es keine Therapieangebote für mich», sagt sie. «Es war ein grosses Durcheinander.»
Kotliarowa zog ins westukrainische Lwiw, wechselte alle paar Monate den Job, tat sich immer schwerer mit ihrem sozialen Umfeld, von dem sie sich nicht verstanden fühlte. «Ich konnte meinen Geburtstag nicht mehr feiern, weil am 30. August auch ein guter Freund von mir gestorben ist.» Schliesslich begriff sie: «Ich habe die ganze Zeit in einer Art Kriegszustand gelebt, in einer Art Vergangenheit.» 2018 wurde bei ihr zum ersten Mal eine Depression diagnostiziert. Doch die folgenden Therapieversuche scheiterten, weil sie sich unverstanden fühlte. «Ein Psychologe sprach mit mir über Blumen und Natur. Und ich hatte verdammt noch mal Leichen im Kopf», sagt Kotliarowa.
Als sie sich nach Beginn der russischen Vollinvasion im Jahr 2022 erneut freiwillig meldete, wurde sie abgelehnt. Also half sie der Armee auf ihre Weise: Sie sammelte Geld für Drohnen, fuhr regelmässig in den Donbas, blieb mit ihren Kamerad:innen in ständigem Kontakt. Währenddessen verschlimmerte sich ihr Zustand. «Ich hatte zwei Monate lang jeden Tag Kopfschmerzen.» Nachts erwachte sie erschöpft, als hätte sie die ganze Nacht irgendwo gefeiert. «Irgendwann habe ich am Tag drei bis vier Ibuprofentabletten genommen», erinnert sie sich. Schliesslich empfahl ihr ein Freund die neuartige Behandlung.
Im Zentrum Lisowa Poljana erhielt sie dann die Diagnose: Sie leide an einer Depression mittleren Schweregrades. Die Therapeutin sagte, Kotliarowa müsse in ihr Unterbewusstsein eintauchen. Sie erhielt eine Ketamininfusion und sah – mit einer dunklen Brille auf den Augen – Bilder und Erinnerungen, so klar, dass sie längst vergessen geglaubte Szenen wiedererkannte. «Ich dachte nur: Wow! Ich hätte mich im Leben einfach nicht daran erinnert.» Am Ende, sagt sie, habe sie gelernt, ihr eigenes Leben «von aussen zu betrachten». Viele der Probleme, an denen sie sich festhielt, erschienen ihr plötzlich lösbar.
Dass die Therapie Wirkung zeigt, ändert nichts daran, dass sich Kotliarowa, wie derzeit viele in der Ukraine, körperlich und emotional erschöpft fühlt. Der Krieg allein wäre schon genug. Doch es ist auch der Winter, die Dunkelheit, die Kälte, die zu diesem Gefühl beitragen. «Melatoninwerte, Neuronen, Kommunikation, alles leidet in den Wintermonaten», sagt Arzt Matrenitsky. Im vierten Winter von Krieg, Kriegsrecht und Ausgangssperren wachse die Einsamkeit. «Viele fühlen sich allein», sagt er, «vor allem jene ohne Familie oder Partner:in.» Depressive Verstimmungen würden häufiger auftreten. Und bei denen, die sie bereits hätten, könnten sie sich noch steigern.
Mehr als bloss Geopolitik
Kotliarowa spürt auch eine grosse Wut, wenn sie ohne Strom in der Wohnung sitzt und von einem weiteren Angriff auf Kyjiw hört oder Nachrichten über den Verlust von Städten im Osten oder Süden des Landes liest. Während im Ausland über Pläne für Verhandlungen spekuliert wird, die den Krieg beenden könnten, bleibt ihr diese Aussicht fern. Russland werde nicht aufhören anzugreifen, sagt sie. Und die politische Diskussion über Gebietsverluste sei für Veteran:innen wie sie mehr als eine geopolitische Frage. «Der Donbas ist kein Koffer, den man am Bahnhof stehen lassen kann, wenn er zu schwer zum Tragen ist. Es ist das Land, in dem ich zu mir selbst gefunden habe.»
Über die Zukunft spricht sie vorsichtig. «Das kommende Jahr erscheint mir wie Nebel. Weder hell noch dunkel, einfach nur Nebel, in dem man auf gut Glück voranschreitet.» Der Krieg hat die Bevölkerung gelehrt, irgendwie weiterzumachen und sich anzupassen. Es bleibt einem nichts anderes übrig.