Afghanistan: Humanitäre Hilfe pervertiert: Pakete wie Geschosse

Die USA verletzten bei den Abwürfen von Hilfspaketen über Afghanistan elementare Regeln der humanitären Hilfe, sagt der Chef der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza), Walter Fust.

WoZ: Die Schweiz hat sich in den letzten Jahren stark für Afghanistan engagiert. Was kann sie jetzt tun, da Afghanistan bombardiert wird?
Walter Fust: Die Schweiz ist keine direkte Akteurin. Sie kann in diesem Konflikt lediglich appellieren, Hilfe finanzieren und humanitäre Experten zur Verfügung stellen. Sie hat auch die Rolle, ständig darauf hinzuweisen, dass die Kriegsparteien das internationale humanitäre Recht einhalten müssen. Nicht eingehalten würde dieses Recht, wenn mutwillig auf die Zivilbevölkerung gezielt und Hilfskonvois und Spitäler aus der Luft bombardiert würden.

Ist der Tod der vier Mitarbeiter einer Uno-Agentur für Minenräumung bei den Luftangriffen in Kabul nicht eine solche Verletzung des humanitären Rechts?
Ich kenne die Umstände dieses Falles zu wenig.

Wie beurteilen Sie die Abwürfe von Lebensmittelrationen über Afghanistan durch die US-Luftwaffe?
Wir hoffen nur, dass es dabei keine Toten gibt. Eine solche Aktion dürfte nur dann durchgeführt werden, wenn am Boden eine Organisation die Hilfsgüter entgegennimmt und verteilt und wenn die Ziele der Hilfsabwürfe genau definiert und vorbereitet sind. Zudem sollte die Bevölkerung über die Medien informiert werden. All diese Vorkehrungen wurden bisher nicht getroffen; die Flugzeuge haben die Pakete in der Nacht und ohne vorher definierte Ziele abgeworfen. Es ist gefährlich, selbst kleine Pakete über besiedeltem Gebiet abzuwerfen. Sie wirken wie Geschosse aus der Luft. Es hiess zwar, die Güter seien über abgelegenen Gebieten abgeworfen worden; wir haben aber keine genaueren Angaben dazu. Die Säckchen mit den Hilfsgütern sind meines Wissens nur englisch beschriftet. Man kann nicht davon ausgehen, dass die afghanische Bevölkerung Englisch versteht.

Was halten Sie davon, dass die Hilfspakete unter anderem Erdbeermarmelade, Erdnussbutter und Erfrischungstüchlein enthalten?
Das ist nicht das, was die hungernde afghanische Bevölkerung braucht. Nötig wäre zum Beispiel Mehl, aber sicher nicht Erfrischungstüchlein. Ausserdem muss man sich der Gefährdung bewusst sein, die von den Minen ausgeht. Versucht die hungernde Bevölkerung, sich in abgelegene Gebiete durchzuschlagen, um zu den Hilfspaketen zu gelangen, kann es zu Unfällen kommen. Wir gehen davon aus, dass Hilfsgüter nur im Extremfall aus der Luft abgeworfen werden sollen. Die Uno würde nicht so vorgehen. Deshalb war in Genf in den letzten Tagen auch zu hören, wie unschön die Vermischung von Militärschlägen und humanitärer Hilfe sei. Die Menschen können nicht mehr zwischen Bomben und Hilfe unterscheiden. Viel sinnvoller wäre gewesen, Luftschläge und Hilfe zu trennen und Letzteres andern Akteuren als den Kriegsparteien zu überlassen. Aus den Kriegen in Afrika und auf dem Balkan hätte man genau diese Lehre ziehen können.

Und die Hilfsgütertransporte auf dem Boden wurden suspendiert.
Das World Food Programme (WFP) der Vereinten Nationen hat entschieden, dass keine humanitäre Hilfe geleistet wird, so lange die Bombardierungen in Gang sind. Hören die Luftschläge auf, kann die Hilfe wieder anrollen; durchgeführt wird sie dann über die lokalen Mitarbeiter, denn in dem von den Taliban kontrollierten Gebiet halten sich keine internationalen Helfer mehr auf. Es gibt in Afghanistan viele und gut ausgebildete Leute. Die Frage ist nur, ob die Taliban ihnen die Hilfsaktionen gestatten. Es ist anzunehmen, dass sie ihnen die Arbeit mindestens nicht erleichtern, denn auf dem Gebrauch von Satellitentelefonen und Internet steht die Todesstrafe. Nachschub ist in den Nachbarländern vorhanden und auch in Afghanistan gibt es noch ein paar Lager mit Hilfsgütern.

Wie gross ist die Gefahr, dass Hilfskonvois bombardiert werden?
Es ist eigentlich nicht anzunehmen, dass die US-Streitkräfte auf Hilfskonvois schiessen. Sie haben ja eine Luftaufklärung. Andererseits ist die Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Konvois schwierig. Denn die Taliban tragen keine Uniformen. Deshalb will das WFP während den Bombardierungen keine Konvois losschicken. Die Uno hofft, dass aufgrund der vorhandenen Vorräte im Land die Situation mindestens während einiger Tage überbrückt werden kann. Sehr lange ist das aber nicht möglich. Der endgültig letzte Termin ist der Wintereinbruch, der bereits in fünf bis sechs Wochen zu erwarten ist. Dann sind viele Gebiete in Afghanistan auf dem Landweg nicht mehr zugänglich. Wir machen uns auch riesige Sorgen, weil wir überhaupt keine Nachrichten über die Zivilbevölkerung erhalten, die auf der Flucht ist. Die Verbindungen sind enorm schwierig. Einzige Informationsquelle sind die Flüchtlinge, die über die Grenzen kommen. Immerhin haben sich letzten Samstag die Nachbarländer Afghanistans bereit erklärt, Flüchtlinge temporär aufzunehmen, wenn diese Schutz brauchen und es nicht mehr anders geht – und diese Länder internationale Hilfe erhalten. Sie sind aber nicht bereit, ihre Grenzen gänzlich zu öffnen, weil sie Angst vor einem Eindringen der Taliban haben.

Was bedeutet diese Kombination von Bomben und Brot für die Zukunft der humanitären Hilfe?
Es ist sehr schwierig für die humanitäre Hilfe, wenn dieselben Akteure gleichzeitig bombardieren und Hilfe leisten. Die Hilfe ist dann Teil der militärischen Kriegführung. Wir betonen immer wieder, dass keine solche Vermischung stattfinden soll. Die militärische Auseinandersetzung ist Sache der Militärs, die Hilfe Sache von Zivilen. Es ist schon in Somalia passiert, dass die USA dies vermischt haben. Wenn man aber kurz vor dem Hungertod steht, fragt man nicht, woher die Lebensmittel kommen. In diesem Sinne darf man nicht sagen, militärische Akteure dürfen keine humanitäre Hilfe leisten. Nur liegt in diesem Fall keine Notwendigkeit vor, dass derselbe Akteur beides gleichzeitig durchführt. Wir hoffen, dass in Zukunft die beiden Aktionen getrennt und Regeln wie auch Erkenntnisse bei den Abwürfen von Hilfsgütern eingehalten werden. Sonst ist das weggeworfenes Geld.