Afghanistan: Kleine und grosse Massaker: Der Überfall auf Hadschbirgit

Die besessene Terroristenjagd von US-Sondereinheiten macht vor kleinen Dörfern nicht Halt. Hadschbirgit musste es erleben; und in Hadschbirgit ist nichts mehr wie vorher.

Präsident George Bushs «Krieg gegen den Terror» erreichte das afghanische Wüstendorf Hadschbirgit am 22. Mai um Mitternacht. Hadschi Birgit Chan, der bärtige 85-jährige Dorfälteste und Anführer von 12 000 in der Gegend ansässigen Familien, lag auf einem Flecken Gras vor seinem Haus. Fakir Mohamed schlief zwischen seinen Schafen und Ziegen auf einem Flecken Sand weiter südlich, als er hörte, wie sich «die grossen Flugzeuge am Himmel näherten». Sogar nachts ist es so heiss, dass viele DorfbewohnerInnen die Nacht im Freien verbringen. Mohamedin und seine Familie hielten sich aber in ihrer Lehmhütte auf. An diesem 22. Mai befanden sich 105 Familien in Hadschbirgit, und alle wurden vom Donner der Hubschraubermotoren, dem Schlagen der Rotorflügel und dem Brüllen der Amerikaner aus dem Schlaf gerissen.

Hadschi Birgit Chan wurde dabei gesehen, als er von seinem kleinen Rasen zur weiss gestrichenen Dorfmoschee rannte, einem rechteckigen Zementgebäude mit einem einzigen Lautsprecher und ein paar abgetretenen Teppichen. Mehrere bewaffnete Männer rannten ihm nach. Hakim, einer der Viehhirten, sah, wie die Männer aus den Hubschraubern dem alten Mann hinterherjagten, in die Moschee hinein. Er hörte eine Gewehrsalve. «Als unsere Leute ihn fanden, war er durch einen Kopfschuss getötet worden», erzählt er mir und deutet nach unten. Im Zementboden der Moschee befindet sich ein einzelnes Einschussloch und daneben ein getrockneter Blutfleck. «Wir fanden Stücke seines Gehirns an der Wand klebend.»

Granaten, Schüsse

Scharfe Explosionen in den Höfen und Eingängen der kleinen Häuser erschütterten das ganze Dorf. «Die Amerikaner warfen Schock- und Rauchgranaten nach uns», erinnert sich Mohamedin. «Sie warfen dutzende davon, und sie schrien und brüllten die ganze Zeit. Wir verstanden ihre Sprache nicht, aber sie hatten auch afghanische Schützen mit geschwärzten Gesichtern bei sich. Mehrere von ihnen fingen an, unsere Frauen zu fesseln, und die Amerikaner rissen ihnen die Burkas hoch, um ihre Gesichter zu sehen. Da sah man das kleine Mädchen wegrennen.» Abdul Satar sagt, das dreijährige Mädchen sei schreiend vor Angst aus ihrem Haus gelaufen. Zarguna war ihr Name, sie war die Tochter eines Mannes namens Abdul Schakur. Jemand habe gesehen, wie sie in den achtzehn Meter tiefen Dorfbrunnen auf der anderen Seite der Moschee gefallen sei. Offenbar brach sie sich beim Sturz den Rücken und ertrank allein gelassen während der Nacht. Andere Kinder fanden ihre Leiche am Morgen.

Die Amerikaner achteten nicht darauf. Der Beschreibung ihrer Uniform nach zu urteilen, scheinen sich US-Spezialeinheiten unter ihnen befunden zu haben und auch afghanische Spezialeinheiten – die brutalen und undisziplinierten Truppen, die vom Hauptquartier der ehemaligen Geheimpolizei Chad in Kabul aus geleitet werden. Es waren auch 150 Soldaten des 101. US-Luftgeschwaders dabei, aus der Heimbasis Fort Campbell in Kentucky. Aber Fort Campbell ist weit weg von Hadschbirgit, das in der Wüste liegt, etwa achtzig Kilometer von der südafghanischen Stadt Kandahar entfernt. Die US-Amerikaner waren von einer einzigen Idee besessen: dass das Dorf Anführer der Taliban und der Bewegung von Usama Bin Laden beherberge.

Ein ehemaliger Angehöriger einer Sondereinheit von einem der amerikanischen Koalitionspartner lieferte seine eigene Erklärung für das Verhalten der Amerikaner, als ich ihn einige Tage später traf. «Wenn wir in ein Dorf gehen und einen bärtigen Bauern sehen, sehen wir einen bärtigen afghanischen Bauern», sagte er. «Wenn Amerikaner in ein Dorf gehen und einen bärtigen Bauern sehen, sehen sie Usama Bin Laden.»

Alle Frauen und Kinder wurden an einem Ende von Hadschbirgit versammelt. «Sie schoben und stiessen uns aus unseren Häusern», sagt Mohamedin. «Einige der afghanischen Schützen brüllten uns beleidigend an. Währenddessen warfen sie Granaten auf unsere Häuser.» Die wenigen DorfbewohnerInnen, denen die Flucht gelang, sammelten die Schockgranaten am nächsten Tag mit Hilfe der Kinder ein. Es gibt dutzende davon, kleine, grüne Zylinder mit seitlich aufgestempelten Namen und Codes. Einer lautet «7 BANG, Delay: 1.5 Secs. NIC-01/06-07», ein anderer «1 BANG, 170 dB, Delay: 1.5 s». Die Markierung eines weiteren Zylinder lautet: «DELAY Verzögerung ca. 1,5 s».

Dies waren die Granaten, die Zarguna erschreckt hatten und schliesslich ihren Tod verursachten. Ein grosser Teil der Ausrüstung der US-Spezialeinheiten wird in Deutschland hergestellt, von der Hamburger Firma Nico-Pyrotechnik – daher das «NIC» auf mehreren Zylindern. «dB» steht für Dezibel. Mehrere Datumsstempel zeigen, dass die Handgranaten erst im letzten März hergestellt worden sind. Die deutsche Firma bezeichnet sie offiziell als «40 x 46mm-Blitz-Knall-Patronen». Aber die Amerikaner feuerten auch Kugeln ab. Mehrere davon durchsiebten ein Autowrack, in dem ein anderer Dorfbewohner, ein Taxifahrer namens Abdullah, geschlafen hatte. Er wurde schwer verletzt. Genau wie Hadschi Birgit Chans Sohn.

Ein Sprecher des US-Militärs behauptete später, die US-Soldaten seien in dem Dorf «unter Beschuss geraten». Sie hätten einen Mann getötet und zwei weitere, «vermutlich Taliban oder Al-Kaida-Mitglieder», verwundet. Die Unterstellung, dass der 85-jährige Hadschi Birgit Chan geschossen haben soll, ist schlicht absurd. Bei den zwei Verletzten handelt es sich vermutlich um Chans Sohn und um Abdullah, den Taxifahrer. Die Behauptung, sie seien Taliban oder Al-Kaida-Mitglieder, war eine offensichtliche Lüge, denn beide wurden umgehend wieder freigelassen.

Verschleppung

«Einige der Afghanen, die die Amerikaner mitgebracht hatten, brüllten den weinenden Kindern ‘Halt ’s Maul’ zu», erinnert sich Fakir Mohamed. «Sie befahlen uns, uns hinzulegen, und sie legten uns Handschellen an, eine Art Plastikhandschellen. Je mehr wir daran zogen, desto enger und schmerzhafter wurden sie. Dann verbanden sie uns die Augen. Dann fingen sie an, uns zu den Flugzeugen zu stossen. Sie schlugen uns, während wir zu gehen versuchten.»

Alles in allem trieben die Amerikaner 55 Dorfbewohner mit verbundenen Augen und gefesselten Händen zu ihren Helikoptern. Auch Mohamedin war darunter. Und auch Abdul Schakur – ohne zu wissen, dass seine Tochter im Brunnen im Sterben lag. Der 56. afghanische Gefangene, der auf einen Helikopter verladen wurde, war bereits tot: Die US-Soldaten hatten beschlossen, die Leiche des 85-jährigen Hadschi Birgit Chan mitzunehmen.

Als die Hubschrauber auf dem Flughafen von Kandahar landeten – dem Hauptquartier des 101. Luftgeschwaders – wurden die Dorfbewohner in einen Container getrieben. Ihre Füsse wurden gefesselt, und dann wurden ihre Handschellen und die Fessel von einem Bein eines jeden Gefangenen getrennt an Pfählen festgemacht, die in den Boden des Containers getrieben waren. Dicke Säcke wurden ihnen über die Köpfe gestülpt. Abdul Satar war einer der Ersten, die aus diesem heissen, kleinen Gefängnis hinausgebracht wurden. «Zwei Amerikaner kamen hinein und rissen mir die Kleider runter», sagte er. «Als die Kleidung nicht reissen wollte, schnitten sie sie mit Scheren ab. Sie zerrten mich nackt heraus, um meinen Bart zu scheren und mich zu fotografieren. Warum haben sie meinen Bart abrasiert? Ich hatte mein ganzes Leben lang einen Bart.»

Nach der Bartrasur wurde Mohamedin nackt in ein Verhörzelt geführt, wo ihm die Augenbinde abgenommen wurde. «In dem Raum befand sich ein afghanischer Übersetzer, ein Paschtune mit kandaharischem Akzent, zusammen mit amerikanischen Soldaten, Männern und Frauen. Ich stand nackt vor ihnen, mit gefesselten Händen. Einige von ihnen standen, einige sassen an Tischen. Sie fragten mich: ‘Was machst du?’ Ich sagte ihnen: ‘Ich bin Hirte – warum fragen Sie Ihre Soldaten nicht, was ich machte?’ Sie sagten: ‘Erzähl es selber.’ Dann fragten sie: ‘Was für Waffen hast du benutzt?’ Ich sagte ihnen, dass ich keine Waffen verwendet hätte.

Einer von ihnen fragte: ‘Hast du während der russischen Besetzung eine Waffe benutzt oder zur Zeit der Taliban?’ Ich sagte, dass ich lange Zeit Flüchtling gewesen sei.» Aufgrund der Aussage der Dorfbewohner ist es unmöglich, festzustellen, welche US-Einheiten an den Verhören beteiligt waren. Einige Soldaten trugen Kappen mit gelben oder braunen Abzeichen, andere trugen Zivilkleidung. Der afghanische Übersetzer trug sein traditionelles «Salwa Kamis». Hakim wurde etwas länger verhört; wie Mohamedin sagt er, er sei bei seiner Vernehmung nackt gewesen.

«Sie wollten mein Alter und meinen Beruf wissen. Ich sagte, dass ich sechzig Jahre alt und Bauer sei. Sie fragten: ‘Gibt es irgendwelche Araber oder Taliban oder Iraner oder Ausländer in eurem Dorf?’ Ich sagte: ‘Nein.’ Sie fragten: ‘Wie viele Räume gibt es in deinem Haus? Hast du ein Satellitentelefon?’ Ich antwortete: ‘Ich habe kein Telefon. Ich habe noch nicht einmal Strom.’ Sie fragten: ‘Waren die Taliban gut oder schlecht?’ Ich antwortete, dass die Taliban niemals in unser Dorf gekommen seien, ich also nichts über sie wisse. Dann fragten sie: ‘Was ist mit den Amerikanern? Was für eine Art Leute sind die Amerikaner?’ Ich antwortete: ‘Wir haben gehört, dass sie uns befreit haben, mit [Präsident Hamid] Karsai, und dass sie uns geholfen haben – aber wir wissen nicht, was für ein Verbrechen wir verübt haben, dass wir jetzt so behandelt werden.’ Was hätte ich denn sagen sollen?»

Käfige aus Draht

Ein paar Stunden später wurden die Dorfbewohner von Hadschbirgit mit leuchtend gelber Kleidung ausgestattet und zu einer Reihe von Käfigen aus Draht geführt, die auf dem Sand der Luftbasis aufgestellt worden waren – eine Miniaturausgabe von Guantánamo. Man gab ihnen Brot, Biskuits, Reis, Bohnen und Wasser in Flaschen. Die Jungen wurden in andere Käfige als die Älteren gesteckt. Es gab keine Verhöre mehr, aber sie wurden für weitere fünf Tage in den Käfigen festgehalten. Die ganze Zeit über versuchten die Amerikaner, die Identität des 85-jährigen Mannes festzustellen. Sie fragten ihre Gefangenen nicht – die ihn sofort hätten identifizieren können –, womöglich weil die US-Vernehmer sie nicht wissen lassen wollten, dass er tot war. Schliesslich gaben die Amerikaner ein Foto des Gesichts der Leiche dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Beamte aus Kandahar informierten das IKRK darauf umgehend, dass es sich bei dem älteren Mann um den vielleicht wichtigsten Stammesführer westlich der Stadt handelte.

«Als wir endlich aus den Käfigen hinausgelassen wurden, warteten fünf amerikanische Berater dort, um mit uns zu sprechen», sagt Mohamedin. «Mit Hilfe eines Übersetzers sagten sie uns, sie wollten sich dafür entschuldigen, dass sie uns misshandelt hatten. Es tue ihnen Leid. Was konnten wir sagen? Wir waren Gefangene. Einer der Berater sagte: ‘Wir werden euch helfen.’ Was bedeutet das?» Eine Flotte von US-Hubschraubern flog die 55 Männer zum Fussballstadion von Kandahar – einst Schauplatz von Exekutionen durch die Taliban –, wo alle freigelassen wurden, immer noch in Gefängniskluft und mit einem identifizierenden Armband aus Plastik mit einer Nummer darauf ums Handgelenk. «Ident-A-Band-Bracelet made by Hollister» stand darauf. Erst hier erfuhren die Männer, dass der alte Hadschi Birgit Chan während des Überfalles eine Woche zuvor getötet worden war. Und erst hier erfuhr Abdul Schakur, dass seine Tochter Zarguna tot war.

Aus dem Pentagon hiess es zunächst, es sei «schwer zu glauben», dass die Hände der Frauen aus dem Dorf gefesselt worden waren. Aber nach der identischen Beschreibung der Behandlung der afghanischen Frauen nach der US-Bombardierung der Hochzeitsfeier von Urusgan, die nach dem Überfall auf Hadschbirgit erfolgte, sieht es ganz so aus, als ob die US-Amerikaner – oder ihre afghanischen Verbündeten – genau das getan hätten. Ein Sprecher des US-Militärs behauptete, die amerikanischen Streitkräfte hätten in dem Dorf «Gegenstände mit Informationswert» gefunden, dazu Waffen und eine grosse Summe Bargeld. Was für «Gegenstände» das waren, wurde niemals geklärt. Die Gewehre waren fast sicher für den Selbstschutz gegen Räuber bestimmt. Das Geld bleibt für die Dorfbewohner immer noch ein wunder Punkt. Abdul Satar sagt, ihm seien 10 000 pakistanische Rupien weggenommen worden (etwa 270 Franken). Hakim sagt, er habe seine Ersparnisse von 150 000 Rupien verloren. «Als sie uns befreiten, gaben uns die Amerikaner jeweils 2000 Rupien», sagt Mohamedin. «Wir hätten gerne den Rest unseres Geldes zurück.»

Der Polizeikommandant und sein Gefolge

Aber eine weitaus grössere Tragödie wartete auf die Männer, als sie Hadschbirgit erreichten. In ihrer Abwesenheit waren Diebe über Hadschbirgit hergefallen. Männer aus der Provinz Helmand unter dem Anführer Abdul Rahman Chan – einst ein brutaler, räuberischer «Mudschahid», ein Kämpfer gegen die Russen, und nun ein Polizeikommandant der Regierung Karsai – überfielen das Dorf, nachdem die Amerikaner so viele der Männer mitgenommen hatten. 95 der 105 Familien waren in die Hügel geflohen. Sie mussten ihre Lehmhütten den Plünderern überlassen.

Die verstörenden, erschreckenden Fragen, die in jedem aufkommen, der heute durch die Wüste nach Hadschbirgit fährt, sind offensichtlich. Wer empfahl den USA, das Dorf zu überfallen? Wer erzählte, dass sich Führer der Taliban und von al-Kaida dort befänden? War es vielleicht Abdul Rahman Chan, der grausame Polizeichef, dessen Männer nach dem Überfall so schnell die Lehmhütten plünderten? Heute ist Hadschbirgit praktisch ein Geisterdorf, der Dorfälteste ist tot, die meisten Häuser sind verlassen. Der US-Überfall war nutzlos. Kaum noch vierzig Menschen leben im Dorf. Einige Tage später versammelten sich alle um den Grabstein des kleinen Mädchens Zarguna. «Wir sind arme Leute – was können wir tun?», fragte mich Mohamedin. Ich wusste keine Antwort. Präsident Bushs «Krieg gegen den Terror», sein Kampf des «Guten gegen das Böse», fiel auf das unschuldige Dorf von Hadschbirgit herab. Und Hadschbirgit ist nun tot.

Der Autor ist Nahostkorrespondent der britischen Tageszeitung «The Independent». Der Originaltext findet sich auf www.zmag.org.