«Man könnte fast meinen, sie hätten nie existiert» Eines von Tausenden zivilen Opfern des US-Drohnenkriegs in Afghanistan: 2017 wurde Hadschi Delay von einer Hellfire-­Rakete getötet.

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Drohne über Afghanistan, 2008. Foto: U.S. Air Force, Alamy

Das Haus von Abdul Hadis Familie liegt mitten in der Stadt Khost. Die Atmosphäre in dem Viertel ist laut und lebendig, Autos fahren die Strasse entlang, Menschen schlendern zum Basar. Khost ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und liegt im Osten Afghanistans an der Grenze zu Pakistan, von Kabul aus erreicht man das Stadtzentrum in einer rund vierstündigen Autofahrt. Früher dauerte die Reise fast doppelt so lang. Doch in den letzten Jahren wurden neue Strassen gebaut, und vor wenigen Tagen, am 11. Juli 2021, wurde sogar der erste Flughafen der Provinz eingeweiht. Für die Menschen in Khost ist der neue Flughafen eine Erleichterung. Viele von ihnen sind als Hilfsarbeiter in den Vereinigten Arabischen Emiraten tätig. Schon seit Jahren verlassen sie sich nicht auf ausländische Hilfsgelder, sondern auf ihren eigenen Zusammenhalt und auf das Geld, das sie im Ausland verdienen und in ihre vom Krieg gebeutelte Heimat investieren. Nun müssen sie nicht mehr nach Kabul oder nach Pakistan fahren, um von dort zur Arbeit zu fliegen.

Um Khost auf dem Landweg zu erreichen, muss man die Provinzen Logar und Paktia passieren, die seit langem als Unruheherde gelten. Viele Regionen stehen schon im Juni 2021 unter Talibankontrolle, allein seit Mai konnten die Extremisten landesweit mehr als hundert weitere Distrikte erobern. Auf dem Weg nach Khost gibt es viele Checkpoints des afghanischen Militärs. Autos werden jedoch meist nur dann kontrolliert, wenn die InsassInnen auffallen, weil sie nicht aus der Provinz stammen. Hin und wieder fragen Soldaten oder Polizisten nach der Tazkira, der afghanischen Geburtsurkunde, die als Ausweis dient.

Am Stadtrand von Khost patrouillieren schwer bewaffnete Milizen, die im Gegensatz zur afghanischen Armee mit modernstem Gerät ausgerüstet sind. Sie kontrollieren jedes Fahrzeug gründlich und wirken einschüchternd. Niemand will hier auffallen. Alle wissen, dass es sich bei den Milizen nicht um reguläre Soldaten handelt, sondern um Kämpfer der Khost Protection Force (KPF). Die KPF agiert unabhängig von der afghanischen Armee, ihre Milizionäre stehen auf der Gehaltsliste der CIA. Der US-Geheimdienst hat die Miliz kreiert und rüstet sie seit Beginn des «Krieges gegen den Terror» in Afghanistan aus. Alle KPF-Kämpfer stammen aus der Region, sie sprechen Khosti, den lokalen Paschtodialekt, und merken in der Regel sofort, wenn jemand nicht von hier ist.

Alte Wunden aufgerissen

2017 besuchten wir Abdul Hadi das erste Mal in Khost. Damals wunderte er sich, dass jemand allein aufgrund der Tötung seines Vaters, Hadschi Delay, angereist kam. Delay wurde im Mai 2014 durch einen US-amerikanischen Drohnenangriff getötet. Eine Hellfire-Rakete traf seinen Wagen, der vollkommen ausbrannte. Delay und die vier weiteren InsassInnen, alles ZivilistInnen, waren sofort tot. Wie viele AfghanInnen, die sich überhaupt ein Auto, meist einen Toyota Corolla älteren Jahrgangs, leisten können, verdiente der 45-jährige Hadschi Delay seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer. An jenem Tag war er mit seinen Fahrgästen auf dem Weg in den nahe liegenden Distrikt Ali Sher.

Abdul Hadi erinnert sich, wie sein Vater frühmorgens das Haus verliess. Er wollte seinem Sohn Bescheid geben, sobald er angekommen sei. Dann hörte Abdul Hadi von einem Luftangriff, den das US-Militär gegen acht Uhr morgens auf der Strasse nach Ali Sher ausgeführt haben sollte. Er ahnte Schreckliches. Irgendwann klingelte sein Telefon: «Ich habe gehört, dass dein Vater getötet wurde. Es tut mir furchtbar leid», teilte ihm ein Freund mit. Kurz darauf begab sich Abdul Hadi mit einigen Verwandten und den Angehörigen der anderen Opfer nach Ali Sher, um die Toten zu bergen. «Das Auto war vollkommen ausgebrannt. Die Gesichter der Leichen waren fast nicht mehr erkennbar», erinnert er sich. Hadschi Delays sterbliche Überreste wurden in ein Tuch gelegt und schnell beerdigt. Dasselbe geschah mit den Leichenteilen der anderen Toten.

Wenn Abdul Hadi an jenen Tag denkt, wird sein Blick traurig, die Erinnerung reisst eine alte Wunde auf. Abdul Hadi sieht heute nicht mehr aus wie jener schüchterne junge Mann, der uns vor vier Jahren die Tür öffnete. Er ist deutlich gealtert, seine Haare sind länger, er trägt einen Dreitagebart. Auch wirkt er ernster und verantwortungsbewusster und scheint in die Rolle als Familienoberhaupt, die ihm nach der Ermordung seines Vaters zuteilwurde, hineingewachsen zu sein. «Mein Vater und die anderen Menschen in diesem Auto waren unschuldige Afghanen. Sie wurden Opfer dieses brutalen Krieges, doch bis heute hat sich niemand für ihre Tötung entschuldigt. Man könnte fast meinen, sie hätten nie existiert», sagt er.

Dann holt er ein Foto hervor, das ihn als Siebenjährigen in den Armen seines Vaters zeigt. Hadschi Delay trägt auf dem Bild einen schwarzen Turban, wie er im Südosten Afghanistans verbreitet ist, und einen langen, rotbraunen Bart. Viele Afghanen sehen so aus: Zivilisten, Talibankämpfer, bekannte Politiker. Umso schockierender ist es, dass im «Krieg gegen den Terror» solche äusseren Merkmale ausreichten, um Menschenleben auszulöschen. 2012 wurde bekannt, dass die US-Regierung jede «männliche Person im wehrfähigen Alter» im Umfeld eines Drohnenangriffs auch nach deren Tod einfach als «feindlichen Kombattanten» betrachtet, sofern nicht das Gegenteil bewiesen werden kann. Die Verantwortlichen, darunter auch Drohnenpiloten, sprechen dann von «military-aged males» (MAM). Veröffentlichte Protokolle von Drohnenoperationen in Afghanistan haben in der Vergangenheit gezeigt, dass mit diesem Jargon der Entmenschlichung regelmässig Tötungen gerechtfertigt wurden. Auch seriöse JournalistInnen etwa von der «New York Times» oder der «Washington Post» machten sich das Neusprech der US-Regierung zu eigen und berichteten von «Terroristen», «Militanten» oder «Terrorverdächtigen», ohne die Lage vor Ort zu kennen.

13 000 Angriffe der «Todesengel»

«Es ist in Afghanistan praktisch unmöglich, Zivilisten von bewaffneten Kämpfern zu unterscheiden. Jeder, der das Gegenteil behauptet, lügt. Wir haben jahrelang Menschen getötet, ohne ihre Identitäten zu kennen», sagt Lisa Ling. Sie weiss, wovon sie spricht. Einst diente sie in der US-Luftwaffe und war als Technikerin für die Wartung bewaffneter Drohnen zuständig. Ihr Fokus lag auf jener Hardware, die an den unbemannten Fluggeräten angebracht wird, um Ziele mittels Funksignalen zu lokalisieren. Doch aufgrund der zunehmenden Zahl ziviler Opfer in Afghanistan begann Ling ihre Arbeit und den ganzen Krieg ihrer Regierung zu hinterfragen. Bald darauf stieg sie aus dem amerikanischen Drohnenprogramm aus. Seitdem kritisiert sie als Whistleblowerin ihre ehemalige Arbeit öffentlich.

Drohnenangriffe wie jener, der Hadschi Delays Leben auslöschte, waren an der Tagesordnung. Sie hätten in den letzten zwanzig Jahren tausendfach stattgefunden, sagt Ling, in Afghanistan, aber auch in anderen Ländern, die vom Krieg der USA heimgesucht wurden. Allein zwischen Januar 2015 und Dezember 2019 sollen laut dem in London ansässigen Bureau of Investigative Journalism (BIJ) über 13 000 Angriffe stattgefunden haben. Dabei wurden zwischen 4000 und 10 000 AfghanInnen getötet, die Identitäten der meisten Opfer sind bis heute nicht geklärt. Bis Ende Februar 2020 der US-Taliban-Deal unterzeichnet wurde und die Zahl der Luftangriffe massiv abnahm, war Afghanistan das am stärksten von Drohnen bombardierte Land der Welt. Die AfghanInnen bezeichnen die fliegenden Killer lautmalerisch nach dem Geräusch, das sie machen, als «bungay» oder «bungak», manchmal auch als «Asrael» (der islamische Todesengel).

«Irgendwann wurde mir klar, dass wir keine Terroristen jagten, sondern selbst Terror verbreiteten», sagt Ling. Sie betont auch, dass nur ein Bruchteil aller Tötungen bekannt sei. «Es ist so, als ob man auf Ameisen tritt und danach nicht mehr daran denkt», gibt auch Michael Haas zu Protokoll, ein ehemaliger Drohnenoperator der US-Luftwaffe, der ebenfalls zum Aussteiger und Kritiker wurde. Während seiner sechsjährigen «Karriere» sass Haas im Luftwaffenstützpunkt Creech in Las Vegas und tötete mit dem Joystick in der Hand Menschen in Afghanistan.

Abdul Hadi stellt sich weiterhin die Frage, warum ausgerechnet der Wagen seines Vaters zum Ziel der US-Armee wurde. Sie bleibt unbeantwortet. Heute ist Abdul Hadi 29 Jahre alt. Als ältester Sohn der Familie liegt es an ihm, seine Mutter und die jüngeren Geschwister zu ernähren. Abdul Hadi weiss, dass diese Bürde ein Leben lang auf seinen Schultern lasten wird. Schon oft war er der Verzweiflung nahe. Er arbeitet, wie er sagt, mal hier und mal da. Hauptsache, es kommt ein wenig Geld ins Haus. Bei unserem Besuch ist er als Haushaltshilfe in einem Regierungsbüro tätig, wo er putzt, kocht und Tee serviert: «Mir bleibt keine andere Wahl. Ich habe die Pflichten meines Vaters übernommen und muss dem gerecht werden.»

Nach dem Drohnenangriff und der Beerdigung seines Vaters hatte Abdul Hadi Angst, sich an die korrupte Provinzregierung zu wenden, die mit der KPF zusammenarbeitet. Ende 2001, nach den Anschlägen vom 11. September, installierte Washington in Kabul eine neue Regierung. Seitdem hatten die Amerikaner und ihre Verbündeten de facto auf fast allen Ebenen das Sagen. Konkret hat dies zur Folge, dass zivilen Opfern, die von den Nato-Truppen getötet wurden, keine Aufmerksamkeit geschenkt wird. In den allermeisten Fällen gibt es weder eine Untersuchung noch Entschädigungszahlungen. Dabei spielt es keine Rolle, wie der Präsident heisst, der gerade im Arg, dem Präsidentenpalast in Kabul, sitzt. Und so sehr sich die USA und der Westen nach den Präsidentschaftswahlen 2014 mit dem «ersten demokratischen Machttransfer in der Geschichte» brüsteten: An der schwierigen Realität der einfachen Leute wie Abdul Hadi änderte sich nichts. Neben dem Krieg und der katastrophalen Sicherheitslage belasten Korruption, Polizeigewalt und die Ignoranz der Regierung ihr Leben Tag für Tag.

Die totgeschwiegenen Drohnenopfer

Ein gutes Beispiel für diese Belastung ist die ständige Präsenz der KPF-Miliz, die nicht zuletzt dazu aufgebaut wurde, US-Kriegsverbrechen zu vertuschen. Sie tritt meist nach den Drohnenangriffen auf und schüchtert die Hinterbliebenen ein, auch Abdul Hadi. Zudem spielt sie eine wichtige Rolle bei der Informationsbeschaffung und Lokalisierung von Zielen. Trotz seiner Bedenken wandte sich Abdul Hadi nach der Tötung seines Vaters an die lokale Regierung in Khost. Er wollte wissen, warum das Auto seines Vaters von einer Drohne bombardiert worden war. Die Regierungsbeamten, das Militär und der KPF wussten vom Angriff, doch sie konnten ihm nicht helfen. Als Abdul Hadi auf einer Erklärung für den Angriff beharrte, hiess es: «Unseren Informationen zufolge befand sich im Auto deines Vaters ein Verdächtiger.» Wer dieser «Verdächtige» gewesen sein soll, mit wem oder was er angeblich in Verbindung stand, wurde nicht ausgeführt. Doch reichte der «Verdacht» allem Anschein nach aus, um ein Auto mit fünf Insassen per Knopfdruck in die Luft zu jagen.

Die lokalen Medien berichteten nicht über den Luftangriff. Überhaupt interessierte sich niemand für das Schicksal von Hadschi Delay und das seiner vier Fahrgäste, die an jenem Tag getötet wurden – weder MenschenrechtsaktivistInnen noch lokale afghanische Behörden. Laut Abdul Hadi ist dies einer der Hauptgründe, warum viele Drohnenopfer wie sein Vater kaum wahrgenommen werden und schnell in Vergessenheit geraten. «Wie soll man davon erfahren, wenn niemand berichtet?», fragt er.

Er ist mittlerweile sicher, dass die meisten Opfer von Drohnenangriffen in Khost ZivilistInnen sind. Und er geht davon aus, dass in den letzten Jahren im Durchschnitt mit jedem Talibankämpfer drei bis vier ZivilistInnen getötet wurden. Oder dass, wie im Fall seines Vaters, ganze Gruppen von ZivilistInnen aufgrund vager Verdächtigungen einfach in die Luft gejagt werden. «Viele Menschen, denen solches widerfährt, sind sich der Übermacht des US-Militärs bewusst und trauen sich kaum, etwas dagegen zu unternehmen», sagt Abdul Hadi.

Dazu kommt, dass das afghanische Militär und lokale Regierungsstellen dazu neigen, bei unliebsamen Fragen einfach ihre eigene Version der Geschichte zu erfinden. Wie ihre Befehlshaber im Pentagon brandmarken sie oft sämtliche Opfer eines Angriffs als «Terroristen», «Militante» oder «Talibankämpfer» – ohne Beweise.

Die Drohnen sind mit dem Abzug der Nato-Truppen nicht verschwunden. Ende August wurden mindestens zehn ZivilistInnen bei einem US-Drohnenangriff getötet. Und bereits im April berichtete die «New York Times», Drohnen, Langstreckenraketen, geheime Spezialeinheiten sollten bleiben. Vorerst sieht die Situation in Khost aber anders aus: Die CIA-Basis wurde verlassen, die Milizionäre der KPF sind geflüchtet oder haben sich den Taliban ergeben, viele sollen in die USA ausgeflogen worden sein. «Wir haben weiterhin Angst vor den Drohnen», sagt Abdul Hadi. Für die Zukunft sieht er nur eine Chance: Weder Drohnen noch Bomben können Frieden bringen, sondern nur eine innerafghanische Versöhnung und eine diplomatische Lösung unter den Kriegsparteien. Die jüngsten Entwicklungen zeichnen ein anderes Bild. Der chaotische Abzug der US-Truppen wurde von vielen Beobachtern kritisiert. Tausende AfghanInnen haben das Land verlassen. Abdul Hadi nicht: «Wie die meisten bleibe ich hier und hoffe, dass kein neuer Krieg ausbricht», sagt er.

Emran Feroz: «Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror». Westend Verlag. Frankfurt am Main 2021. 224 Seiten. 29 Franken.

Krieg in Afghanistan

Das afghanische Militär wurde Ende 2001 von den USA und ihren Verbündeten aufgebaut und trainiert. Es untersteht dem afghanischen Verteidigungsministerium und ist heute vor allem für schlechte Ausrüstung und Korruption bekannt. Die Khost Protection Force (KPF) ist eine paramilitärische Miliz, die in den 2000er Jahren von der CIA gegründet wurde. Die KPF-Milizionäre sind mit modernem Material ausgestattet und ihr Sold ist viel höher als jener der Armeesoldaten. Im Oktober 2001 zogen die USA im Rahmen der Operation «Enduring Freedom» in den Krieg gegen die Taliban, die grosse Teile Afghanistans beherrschten. Das von den USA dominierte Militärbündnis Nato ist seit Ende 2001 in Afghanistan stationiert und seit Frühjahr 2021 im Abzug begriffen, der Ende August abgeschlossen wurde. Zu den am Hindukusch stationierten Nato-Staaten gehörten etwa auch Deutschland, Kanada, Frankreich, Australien, die Niederlande, Grossbritannien und die Türkei.