Anhörungen zu 9/11: Falken mit falschem Feindbild

Die Geschichte der Terroranschläge in den USA wird als Melodrama neu inszeniert.

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 bedeuteten in den USA nie bloss den Verlust von dreitausend Menschenleben. Dreitausend Menschen sterben zum Beispiel innerhalb von drei Wochen auf Amerikas Strassen. Rund 45000 Verkehrsopfer sind es jedes Jahr. Doch das erzeugt keinen nationalen Aufschrei. Denn diese Todesfälle sind zwar traurig, aber konstant und als Kollateralschaden der Mobilität leidlich akzeptiert. Die Zerstörung des World Trade Centers hingegen war einzigartig, apokalyptisch. Ein Angriff auf den Mythos der eigenen Unverletzbarkeit. Und so erwartet die Allgemeinheit denn auch vom überparteilichen Untersuchungsausschuss zum 11. September mehr als die sorgfältige Rekonstruktion der Ereignisse. Verlangt wird nichts weniger als die Offenbarung der absoluten Wahrheit. Eine eindeutige Schuldzuweisung für die Katastrophe. Und vor allem die Versicherung, dass ein Terroranschlag in Zukunft verhindert werden kann. Kein Wunder, haben die Anhörungen bis jetzt so wenig kühle Aufklärung und so viel heisses Melodrama – inklusive einer internationalen Konferenz von VerschwörungstheoretikerInnen letztes Wochenende in San Francisco – hervorgebracht.

Reihum dominieren Metaphern aus dem Unterhaltungsgeschäft den eigentlich hochpolitischen Vorgang. Die Befragung von Regierung und Geheimdiensten wird in den US-Medien wie ein Actionfilm dargestellt. Und die HauptdarstellerInnen des Streifens, etwa die Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und der Antiterrorexperte Richard Clarke, haben neben dem öffentlichen Auftritt immer noch mehrere private Spektakel laufen. Lange bevor sich Rice unter politischem Druck bereit erklärt, öffentlich und unter Eid auszusagen, rennt sie von einer Fernsehstation zur andern, um in Talkshows ihre regierungsnahe Sicht der Dinge zu verbreiten. Richard Clarke seinerseits begnügt sich bei der Anhörung nicht damit, seine Kritik an der Bush-Regierung im Detail zu belegen, die in ihrer Irak-Besessenheit vor und nach dem 11. September die Warnungen vor der al-Kaida missachtete. Er gibt gleichzeitig seine Memoiren heraus – Titel: «Against All Enemies» (Gegen alle Feinde) –, in denen er die Geschichte rund um den 11. September als farbige Heldensaga mit sich selbst in der Hauptrolle aufbereitet.

Die Topstars der pathetischen Inszenierung aber sind die Angehörigen der Opfer des 11. September, welche das Geschehen von den Niederungen der interessengebundenen Politik – «politics» ist in den USA ein gebräuchliches Schimpfwort – in die schwindelnden Höhen von purer Menschlichkeit und Moral heben. Als Richard Clarke sich als Erster der Befragten bei den Betroffenen entschuldigt und (s)ein Versagen eingesteht, wird er von Sympathiebezeugungen überschüttet. Tränen, Umarmungen, Schulterklopfen, Seufzen. Endlich einer, der Verantwortung übernimmt. «Es war das effektivste Statement, das ich in mehr als zwanzig Jahren Hearings gehört habe», vermerkt David Corn vom linken Magazin «The Nation». Bereits hat Sicherheitsberaterin Rice den Wunsch geäussert, sich ebenfalls mit Angehörigen von Terroropfern zu treffen. An der (Aussen-)Politik der USA werden diese theatralischen Gesten keinen Deut ändern.

Bis zum 26. Juli hat die Untersuchungskommission Zeit, zusätzliche Fakten zum Umfeld der Terroranschläge zusammenzutragen und auszuwerten. Angesichts der hartnäckigen Geheimhaltungsneurose und der krankhaften Lügerei der Regierung von George Bush ist das eine schwierige Aufgabe. Eine Fristerstreckung für die Untersuchung bis Anfang 2005 lehnt das Weisse Haus ab. Das kleine demokratische Welttheater stört den grandiosen Wahlkampfauftritt des Kriegspräsidenten. Bush will keine öffentlichen Hearings in der politischen Hochsaison.

Die Befragungen zeigen aber jetzt schon, dass nicht bloss individuelle Fehler und Nachlässigkeiten passiert sind. Versagt hat eine ganze Vision, ein Welt- und Feindbild – dasjenige der Regierung Bush. Um zu verstehen, was falsch gelaufen sei, schreibt der Experte für Internationalen Terrorismus, Peter R. Neumann («New York Times», 27. März 2004), müsse man zurückgehen in die letzten Jahrzehnte des Kalten Krieges. Die Leute um Bush, etwa Condoleezza Rice oder Vizepräsident Dick Cheney, hätten den Terrorismus (darunter zählten verschiedenste Gruppen von Brigate Rosse bis IRA) immer als «staatsfinanziert und sowjetabhängig» verstanden. Das damalige Feindbild der konservativen Falken von Washington hat den Kalten Krieg überdauert. Staaten und staatsfinanzierter Terrorismus sind für die altersstarrsinnigen Ideologen im Weissen Haus nach wie vor die einzigen ernst zu nehmenden Akteure, wechselnde staatlich organisierte Imperien und Achsen des Bösen die wichtigsten Sicherheitsthemen. Folgerichtig schmiedet die Regierung Bush fantastische Abwehrraketenpläne. Gegen das jüngste 53-Milliarden-Projekt wehren sich jetzt sogar dutzende von pensionierten US-Generälen. Mehr Bodenhaftung, weniger Star Wars, Herr Präsident.