Um die Personalien von 1082 DemonstrantInnen zu erhalten, inszenierte die Bündner Polizei am Samstag einen der brutalsten Einsätze der jüngeren Geschichte.
Nach der Demo in Chur besteige ich mit über tausend Leuten einen Extrazug nach Zürich, der um etwa 15.30 Uhr abfährt. Ein grosser Teil will nach Hause; der Revolutionäre Aufbau ruft dazu auf, den Bahnhof Landquart zu blockieren, bis die sechzig Verhafteten der Demo in Davos frei seien. Mehrere Leute erzählen mir später, als sie in Landquart zur Lokomotive gekommen seien, hätten bereits Polizisten und Absperrgitter auf den Gleisen gestanden. Ich selbst bleibe im Zug sitzen.
Der Bahnhof ist von Polizei umstellt, direkt gegenüber des Perrons auf der Autobahn steht ein deutscher Wasserwerfer, immer mehr Kastenwagen kommen angefahren. Die Provokationen halten sich in Grenzen, einige stellen sich zum Beispiel vor einen Wasserwerfer, brüllen und spielen Gitarre. Ich bekomme Streit mit ein paar sehr von sich selbst überzeugten jungen Männern, die vom Perron aus Leute im Zug anpöbeln. Hinter der Absperrung auf dem Bahnhofplatz marschieren Neonazis mit Transparenten auf.
Nach 17 Uhr beginnen Genfer Polizisten in Kampfmontur den Zug zu räumen, prügeln Leute und werfen Tränengas in einen Wagen. Sie kommen von beiden Seiten und treiben uns immer enger auf dem Perron zusammen. Viele Leute setzen sich auf den Boden, um ihre friedlichen Absichten zu zeigen. Dann beginnen die Polizisten rhythmisch mit ihren Knüppeln auf die Schilder zu schlagen. Einige Sekunden später attackieren sie die am nächsten stehenden Personen, prügeln auf sie ein und sprühen ihnen Pfefferspray ins Gesicht. Gleichzeitig schiessen sie in den einzigen Fluchtweg Schockgranaten, Gummischrot und Unmengen von Tränengas.
Es entsteht eine Massenpanik, die Leute trampeln sich fast nieder und müssen durch das Tränengas und die explodierenden Schockgranaten über die Gleise rennen. Viele sehen wegen des Pfeffersprayeinsatzes überhaupt nichts mehr und fallen immer wieder hin. Wir stolpern in die Leitplanke hinter den Gleisen hinein und haben fast nicht mehr die Kraft, sie zu überklettern. Am Rand stehen Genfer Polizisten und rufen ermunternd: «Allez hop!»
Um 18 Uhr finden wir uns eingekesselt auf dem Bahnhofplatz wieder, umstellt von Gittern und deutschen und Schweizer Polizisten. Drei einsatzbereite deutsche Wasserwerfer sind auf uns gerichtet. Fünf offensichtlich friedliche Personen, darunter ein Kind, die mit erhobenen Armen auf das Polizeikommando zugehen, um zu verhandeln, werden sofort abgespritzt.
Später gibt die Polizei bekannt, sie werde immer fünf Personen auf einmal zur Personenkontrolle in Empfang nehmen. Zum Glück ist es möglich, ein Feuer zu machen, Proviant wird geteilt, ein Grüppchen rennt mit einem Transparent, das bald beschlagnahmt werden wird, um einen Baum. DemosanitäterInnen kümmern sich um die Verletzten. Einige Pfefferspray-Opfer können noch Stunden später die Augen nicht öffnen.
Es gelingt uns, Hans Peter Michel aus Davos, der letztes Jahr zwischen Oltner Bündnis und Behörden vermittelt hat, zu telefonieren. Er kommt nach Landquart und spricht mit den Eingekesselten, kann bei der Polizei aber offenbar nichts erreichen.
Nach 22 Uhr, als nur noch knapp hundert Menschen auf dem Platz übrig sind, kommt die Polizei näher und macht den Kessel enger. Die Leute, die ein paar glühende Holzstücke zum Wärmen mitnehmen wollen, bekommen gezielte Knüppelhiebe in die Nieren. Als eine der Letzten komme ich schliesslich dran. Zwei Beamte kontrollieren die Ausweise in offenen Militärfahrzeugen. Warum die Polizei Militärfahrzeuge verwende, frage ich einen Polizisten im Kordon. Antwort: «Nous sommes des confrères.» Zum Durchsuchen werden wir nicht mehr in eine Tiefgarage gebracht wie die meisten Leute vor uns, sondern auf einen offenen Parkplatz im Schneegestöber. Meine «Avanti Nein»-Fahne wird beschlagnahmt, das sei Demomaterial. Einer Sanitäterin konfiszieren sie die roten Kreuze und die Medizinalschere.
Um 23 Uhr werden wir auf den Bahnhof geschleust, aber noch nicht aufs Perron gelassen. Als die letzten Durchsuchten da sind, werden wir in der Auffahrt zwischen Unterführung und Perron eingesperrt, lachende Polizisten in Vollmontur schauen auf uns hinunter. Da stehen wir also völlig wehrlos und können uns vorstellen, was sie alles mit uns machen könnten, wenn sie wollten.
Schliesslich kommt ein Zug, und wir werden hineinbegleitet, vor jeder Tür stehen drei Aargauer Polizisten in voller Montur mit Gummischrotgewehren, chemischen Kampfstoffen und allem Zubehör. So werden wir nach Zürich gefahren, wo wir um 00.40 Uhr ankommen. Die Neonazis, die ein paar Stunden vorher ankommende DemonstrantInnen angriffen, sind zum Glück nicht mehr da.
Um die Personalien von 1082 angeblichen «gewaltbereiten Chaoten» zu bekommen, hat die Bündner Polizei die Gefährdung der Anwesenden bewusst in Kauf genommen. Während der Massenpanik im Tränengas hätte es ohne weiteres Schwerverletzte oder sogar Tote geben können.
Die bürgerlichen Medien haben die Polizeiversion der Vorfälle in Landquart kritiklos übernommen. Überhaupt waren die Medienberichte zum Wef noch nie so positiv wie dieses Jahr («Davos ist ein Juwel»: «Tages-Anzeiger» vom Montag). Vor drei Jahren, als vor lauter Abschottung auch Einheimische, JournalistInnen und TeilnehmerInnen der «Public Eye»-Konferenz nicht nach Davos kamen, waren die Medien stinksauer. «Polizeieinsatz wie in Diktatur» titelte damals der «SonntagsBlick». Inzwischen hat das Wef seine PR-Strategie erfolgreich verbessert. Und der Polizeieinsatz ist noch ein Stück näher an der Diktatur.
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Die Schweizerische Depeschenagentur tippte praktisch nur den Pressetext der Bündner Polizei ab. Der «Tages-Anzeiger» titelte «Massenkontrollen verhinderten Nachdemos». Der «SonntagsBlick» schrie: «An der Kundgebung in Chur hielten sich die Chaoten zurück. In Landquart zeigten sie ihr wahres Gesicht». Die «Neue Zürcher Zeitung» erkannte: «Mit kluger Taktik Eskalation verhindert». Und der «Blick» sah: «Wef-Chaoten schlugen wieder in Landquart zu». Auch die «Südostschweiz» quengelte: «In Landquart haben es rund 500 Wef-Demonstranten auf die Spitze getrieben.
«Bitte rufen Sie die Polizei nicht an, wenn Sie das Gefühl haben, ein Fixer oder ein Dealer werde zu hart angefasst», bat die Zürcher Stadtpolizei im Januar 1995 die Zürcher Bevölkerung. Und Roger de Weck, damals Chefredaktor des «Tages-Anzeigers», erteilte den PolizistInnen die Generalabsolution mit der Bemerkung, «es werde wohl nicht jedem Polizisten gelingen, die Verhältnismässigkeit zu wahren». Angesichts der offenen Drogenszene am Letten und deren anstehender Räumung waren nicht aufmerksame BürgerInnen gefragt, die dem Staat und seinen Organen auf die Finger schauten.
«Bitte rufen Sie die Polizei nicht an, wenn Sie das Gefühl haben, ein Fixer oder ein Dealer werde zu hart angefasst.» Mit dieser Bitte versucht zurzeit die Zürcher Stadtpolizei ihren speziell für die Lettenschliessung eingerichteten Telefondienst, der die Mitarbeit der Bevölkerung bei der Junkiehatz erleichtern soll, von nutzlosen Anrufen zu entlasten.
«Von Walter Stürm, z.Zt. Untersuchungsgefängnis Sion», lautet die Autorenzeile des Textes «Ich kam mir vor wie ein Goldtransport» aus der WOZ Nr. 6 vom 9. Februar 1990. Walter Stürm, berühmt geworden als «Ausbrecherkönig», beschreibt die «Strapazen einer Auslieferung». Am 30. Juni 1989 war Stürm in seinem Appartement im Küstenort Valle Gran Rey auf der Kanarischen Insel La Gomera verhaftet worden. Damit war seine siebte Flucht zu Ende. Nach seiner Auslieferung Ende Januar 1990 beschrieb Stürm der WOZ in einem Brief die Auslieferung.
Ausser schwarz war die WOZ in ihren ersten Jahren rot, dann wurde sie gelb, was sie bis heute geblieben ist. Ein einziges Mal aber war sie blau: «Treues WoZ-Publikum! Dies hier ist die WoZ oder genauer; ihre Sonderbeilage zur Presselandschaft Schweiz», hiess es im Editorial der WOZ Nr. 10/02 unter dem Zeitungskopf, der den Schriftzug der «Weltwoche» täuschend echt imitierte - eben im obligaten Blau. Ebenfalls auf der Titelseite hiess es: «Sehr geehrte, leider unbekannte InvestorInnen der Jean Frey AG.