Balkan: Jedes Opfer zählt

Die Trägerin des alternativen Friedensnobelpreises, Vesna Terselic, ist gegen die Einrichtung einer Wahrheitskommission in Kroatien.

WOZ: Nach dem Ende der Balkankriege in den neunziger Jahren hegten manche im Westen die Hoffnung, dass die ehemaligen Feinde bald wieder einträchtig zusammenleben und die Zeit die Wunden automatisch heilt.

Vesna Terselic: Das war eine ziemlich naive, aber auch menschliche Erwartung. Die Hoffnung auf eine automatische Normalisierung ist verständlich. Doch die Menschen auf dem Balkan haben andere Erfahrungen gemacht. So wurden etwa die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs nie sorgfältig dokumentiert. Nicht einmal die genaue Zahl der Toten wurde ausfindig gemacht, geschweige denn die Namen der Opfer. Die Bevölkerung lebte im Gefühl, dass das, was sie erlitten hatte, nicht wichtig gewesen war, und dass auch ihre toten Angehörigen keinen Wert für die Gesellschaft hatten. Als dann der serbische und der kroatische Nationalismus nach dem Tod von Staatspräsident Josip Tito überhand nahmen, fürchteten die Menschen, dass sich die Gräuel des Zweiten Weltkriegs wiederholen würden. Diese Angst wurde zu einem wichtigen politischen Faktor. Sie war die ganze Zeit latent vorhanden und konnte reaktiviert werden. Das ist eine sehr gefährliche Situation. Ich bin überzeugt, dass so etwas vermieden werden kann, wenn die Verantwortlichen für die Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden und die Opfer die Botschaft erhalten, dass sie wichtig sind. Vergangenheitsbewältigung ist Konfliktprävention.

Sind denn die «normalen» Leute bereit, bei der Aufarbeitung der Vergangenheit mitzuarbeiten?

Einige ja, andere nicht. Aber es ist ein Thema, zu dem fast alle etwas zu sagen haben. Die Leute sind sehr daran interessiert und haben gleichzeitig Angst. Kein Thema erhält in der kroatischen Öffentlichkeit so viel Aufmerksamkeit wie die Kriegsvergangenheit. Es reicht, die Frontseiten der Zeitungen anzuschauen, um das festzustellen.

Trotz mehreren Anläufen gibt es auf dem ganzen Balkan keine einzige funktionierende Wahrheits- und Versöhnungskommission. Wo liegt das Problem?

Die serbische Kommission, die im Jahr 2001 von Präsident Vojislav Kostunica eingerichtet worden war, hat gar nie richtig mit der Arbeit begonnen und wurde bereits wieder aufgelöst. In Bosnien-Herzegowina haben einige lokale nichtstaatliche Organisationen die Idee aufgenommen, und es wurde ein Gesetzesvorschlag ausgearbeitet. Doch eine öffentliche Diskussion fand nicht statt. Die Organisationen der Überlebenden und der Angehörigen von Vermissten wurden nicht einbezogen. Sie haben durch die Gesetzesvorlage davon erfahren und negativ reagiert. Die Vorlage ist hängig, und ich glaube nicht, dass das Parlament sie je verabschieden wird. In Kroatien läuft die Diskussion darüber, ob es eine Wahrheitskommission braucht. Wir, die VertreterInnen von Bürgerinitiativen, sind gegen eine solche Kommission.

Das überrascht mich. Warum sind Sie dagegen?

Eine Wahrheitskommission hat immer ein limitiertes Mandat. Die Politiker der postjugoslawischen Länder lieben wie alle Politiker den Blick in die Vergangenheit nicht. Sie haben Angst davor. Sie haben ein Interesse daran, die Vergangenheitsbewältigung an eine Kommission zu delegieren, um sich nicht damit befassen zu müssen und nach Ende des Mandats sagen zu können, das Thema sei erledigt. Deshalb müssen die Strafprozesse vor lokalen Gerichten und vor dem Internationalen Tribunal in Den Haag Priorität haben. Was immer strafrechtlich belangt werden kann, soll vor Gericht kommen. Das wird noch Jahre dauern.
Es gibt noch ein weiteres Argument. Die bisher erfolgreichste Wahrheitskommission war die südafrikanische. Sie wurde vom Parlament eingesetzt und hatte eine breite Legitimationsbasis. In Kroatien ist das undenkbar. Das Parlament ist zu schwach. Die Parlamentskommissionen, die Kriegsverbrechen untersuchten, haben beschämende Resultate geliefert. Im Jahr 2000 hat das Parlament die «Deklaration über den vaterländischen Krieg» verabschiedet. Darin hält es fest, Kroatien habe einen Verteidigungskrieg geführt und sei niemals Aggressor in Bosnien-Herzegowina gewesen. Das ist schlicht und einfach falsch. Ohne Historiker zu konsultieren, hat das Parlament festgeschrieben, was die angebliche Wahrheit ist.
Deshalb ist es sinnvoller, langfristige Projekte zu unterstützen, die die Menschen ermutigen zu erzählen, was ihnen widerfahren ist. Und deshalb haben wir ein unabhängiges Zentrum zur Dokumentation von Kriegsverbrechen aufgebaut. Die Verantwortung dafür, ein möglichst breites Bild des Krieges zu zeichnen, liegt heute bei den unabhängigen Organisationen, den Medien und den Wissenschaftlern.

Die Tatsache, dass kroatische Gerichte heute Kriegsverbrecher verurteilen, deutet aber immerhin auf einen gewissen gesellschaftlichen Willen hin, sich der Vergangenheit zu stellen.

Der Wille entsteht nach und nach. Er ist das Resultat langwieriger Arbeit. Ein Meilenstein war die Verurteilung des kroatischen Generals Mirko Norac wegen der Ermordung von fünfzig Zivilpersonen. Die Urteilsverkündung wurde vom kroatischen Fernsehen ausgestrahlt. Lokale Kriegsverbrecherprozesse haben viel mehr Einfluss als die Prozesse am Internationalen Tribunal in Den Haag. Doch es war ausserordentlich wichtig, dass das Haager Tribunal eingerichtet wurde. Das Tribunal macht Fehler, das stimmt. Aber unsere Gerichte wären nie in der Lage, die Hauptverantwortlichen vor Gericht zu stellen - den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic zum Beispiel. Die lokalen Gerichte in Kroatien, Serbien und Bosnien bemühen sich, zu beweisen, dass sie ihre Arbeit genauso gut machen können wie Den Haag. Sie sind daran, Erfahrungen zu sammeln und werden immer besser.

Kroatische Gerichte haben aber auch beschämende Urteile gefällt und Kriegsverbrecher freigesprochen.

Das stimmt. Es wurden mehr beschämende als faire Urteile gefällt. Aber die Tatsache, dass es Richter gibt, die dieser Herausforderung gewachsen sind, ist sehr wichtig. Ich glaube, solche Richter gibt es in allen Ländern des ehemaligen Jugoslawien.

In der Diskussion um das Haager Tribunal gab es die Befürchtung, dieses nehme den betroffenen Gesellschaften die Bewältigung ihrer eigenen Vergangenheit ab oder verhindere sie sogar.

Die Bevölkerung in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien lehnt das Haager Tribunal tatsächlich mehrheitlich ab. Viele nehmen es als von aussen aufgezwungen wahr. Lokale Gerichte haben viel mehr Einfluss und werden stärker wahrgenommen. Unsere Gesellschaften sind tief gespalten. Im Winter 2001, als der Haftbefehl gegen General Norac erlassen wurde, gingen in Split zu seiner Unterstützung 100 000 Menschen auf die Strasse. Daraufhin organisierten wir mit Bürgerinitiativen unter dem Motto «Bürger für das Gesetz» eine Demonstration, um die Gerichte bei ihrer Arbeit zu unterstützen. 10 000 Menschen nahmen an dieser Kundgebung teil. Man könnte sagen, das ist wenig im Vergleich zu den 100 000 Norac-Unterstützern. Doch es grenzte an ein Wunder. Wir hatten befürchtet, dass nicht mehr als hundert Menschen an der Demonstration teilnehmen würden.

Vesna Terselic

Die 42-jährige Vesna Terselic arbeitet für das Zentrum für Friedensstudien Zagreb und war eine der Gründerinnen der Antikriegskampagne Kroatien. Heute engagiert sie sich für Vergangenheitsbewältigung. Für ihre Arbeit wurde sie 1998 in Stockholm mit dem «Right Livelihood Award», dem alternativen Friedensnobelpreis, ausgezeichnet.

Mit Schweizer Hilfe

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) finanziert zahlreiche Projekte zur zivilen Friedensförderung und Konfliktbearbeitung in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien. «Ein besonderer Schwerpunkt ist das Thema Vergangenheitsarbeit. Wir versuchen dabei, innovative Projekte zu unterstützen, die bei anderen Regierungen kein Gehör finden», sagt Roland Salvisberg, der Programmverantwortliche für Südosteuropa in der Politischen Abteilung IV. Finanzielle Unterstützung erhielten beispielsweise öffentliche Diskussionsforen, die das Zentrum für gewaltfreie Aktion in Sarajevo und Belgrad organisierte: Dort diskutierten ehemalige Soldaten der verfeindeten Armeen mit der lokalen Bevölkerung. Ein weiteres Projekt bestand darin, dass in kleinen bosnischen Ortschaften der schlecht informierten Bevölkerung Filme über abgeschlossene Kriegsverbrecherprozesse in Den Haag gezeigt wurden. Das EDA unterstützt unter anderem auch die drei unabhängigen Dokumentationszentren für Kriegsverbrechen in Serbien, Kroatien und Bosnien, Projekte zur psychosozialen Unterstützung von Zeugen, die vor Gericht aussagen sowie lokale Gerichtsverfahren gegen Kriegsverbrecher.