Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

Orbans Doppelspiel

Allgegenwärtig: Wahlplakat von Viktor Orban in Budapest. Foto: Klaus Petrus

Viktor Orbans Migrationspolitik stösst in der EU seit Jahren auf Kritik. Jetzt empfängt er gemeinsam mit der EU ukrainische Geflüchtete mit offenen Armen. Widerspruch oder Kalkül?

Wer sich diese Tage an der 137 Kilometer langen ungarisch-ukrainischen Grenze aufhält, kann viele helfende Hände sehen: lokale Organisationen, die für die ukrainischen Geflüchteten Essen schöpfen, Privatpersonen mit Bussen, die Fahrten nach Budapest anbieten, Gemeinden, die ihre Turnhallen zu Massenlagern umfunktionieren – und Ministerpräsident Viktor Orban, der am ungarischen Grenzort Beregsurany Geflüchtete besuchte und ihnen versicherte: «Wir werden alles tun, um euch zu helfen.»

Die Solidarität mit der Ukraine hat mit geografischer Nähe zu tun, mit der Geschichte und den Interessen Ungarns: Dass der westliche Oblast der Ukraine, Transkarpatien, fast tausend Jahre zu Ungarn gehörte und noch heute 150 000 ukrainische Ungar:innen dort leben, hebt Orban diese Tage genauso hervor, wie er an den ungarischen Aufstand gegen die sowjetische Armee 1956 erinnert.

Wende um 180 Grad

Schon wenige Tage nach Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar hat Ungarn nicht bloss beschlossen, die vom Westen geplanten Sanktionen gegen Russland zu unterstützen, sondern auch den Entscheid der EU für eine schnelle und unkomplizierte Aufnahme aus der Ukraine Geflüchteter mitzutragen. Was bedeutet: Alle Geflüchteten mit einer gültigen ukrainischen Aufenthaltsbewilligung erhalten in Ungarn eine Arbeitserlaubnis, medizinische Grundversorgung, Zugang zu Schulen und zur Sozialhilfe sowie die Möglichkeit zur Familienzusammenführung – vorerst für ein Jahr, verlängerbar auf insgesamt drei Jahre.

Politische Beobachter sprachen daraufhin von einer 180-Grad-Wende, die Orban bezüglich seiner bisherigen Asylpolitik vollziehe – und das kurz vor der Parlamentswahl vom 3. April, bei der die Opposition so stark sein dürfte wie noch nie.


Wahlsieg im Auge

Tatsächlich betreibt Orban seit der sogenannten Migrationskrise im Sommer 2015 eine konsequente Abschottungspolitik, erst mit dem Bau eines 175 Kilometer und vier Meter hohen Zauns an der ungarisch-serbischen Grenze, dann mit oft gewaltsamen Rückschiebungen von Geflüchteten. Solche Pushbacks verstossen nicht bloss gegen internationale Abkommen wie die Genfer Flüchtlingskonvention, die auch Ungarn selbst unterzeichnet hat, sie wurden inzwischen auch vom Europäischen Gerichtshof als rechtswidrig erklärt – ein Urteil, das Orban bis heute ignoriert. Allein im letzten Jahr wurden gemäss der Menschenrechtsorganisation Hungarian Helsinki Committee an der ungarisch-serbischen Grenze 70 000 Pushbacks registriert – betroffen waren vor allem Geflüchtete aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus den Maghrebstaaten.

Orbans offene Arme für ukrainische Geflüchtete – inzwischen haben 225 000 Menschen die ungarische Grenze überquert – dürften dieser rigiden Migrationspolitik indes keinen Abbruch tun. Für ihn ist das letztlich zweierlei: Hier die Ukrainer:innen, die vor dem Krieg flüchten müssen, dort die angeblich illegalen Migrant:innen, die Europa stürmen wollen. Oder wie er bei seinem Besuch in Beregsurany sagte: «Den Geflüchteten werden wir helfen, die Migrant:innen müssen gestoppt werden.»

Dieser Satz passt gut zu einem anderen, den Orban bereits im Herbst 2015 äusserte: «Ungarn wird migrantenfrei bleiben.» Seine darauf aufbauende Migrationspolitik bescherte ihm 2018 einen haushohen Wahlsieg.