Denkbar schlechte Verbündete
Die Solidarität mit der Ukraine lässt manche Linke derzeit in eine unkritische Nähe zu den Institutionen westlicher Machtpolitik rücken. Was es jetzt aber braucht, ist ein neuer Internationalismus, der sich geopolitischen Ränkespielen entzieht und die Kämpfe gegen globale Ausbeutungsmechanismen vereint.
Kaum jemand repräsentiert die Diskursverschiebung seit Ausbruch des Kriegs gegen die Ukraine so emblematisch wie Paul Mason. Der linke britische Publizist, der sich als junger Mann in einer trotzkistischen Organisation politisierte und später als BBC-Journalist einen Namen machte, veröffentlichte 2015 mit «Postkapitalismus» ein viel beachtetes Manifest zur Überwindung des Kapitalismus. Er engagierte sich in der Labour Party, als Jeremy Corbyns Momentum-Bewegung das sozialdemokratische Partei-Establishment stürzte, identifizierte in «Klare, lichte Zukunft» (siehe WOZ Nr. 22/19) die autoritäre Achse der Staatschefs Trump, Putin und Xi als zentrale Bedrohung für die Menschheit und wirbt seither für einen «revolutionär-reformistischen» Antifaschismus zur Verteidigung sozialer und demokratischer Grundrechte.
Der Umstand, dass Mason sich nicht (wie andere Linke) auf den geopolitischen Konflikt der Grossmächte kaprizierte, sondern die innenpolitischen Entwicklungen in den USA, Russland und China und damit auch die autoritären Gemeinsamkeiten dieser Länder in den Blick nahm, erlaubte es ihm, Russlands Politik schneller zu durchschauen als viele andere. Unmittelbar vor Kriegsausbruch reiste Mason in die Ukraine und traf sich dort mit linken Gruppen, von denen sich mittlerweile viele dem bewaffneten Widerstand gegen die Besatzung angeschlossen haben. Nicht zuletzt unter diesem Eindruck fordert Mason Waffenlieferungen und propagiert ein neues Verhältnis der Linken zur Nato. Aus seiner Sicht müssen «die Demokratien» den Krieg gegen Putins Autoritarismus unbedingt gewinnen; auch militärisch. Vom Antikapitalismus über den Antifaschismus zur westlichen Wertegemeinschaft inklusive Nato.
Auch wenn im Augenblick viele Linke vergleichbare Volten hinlegen, ist das eine Bankrotterklärung. Eine Linke, die sich das uralte antikommunistische Narrativ zu eigen macht, wonach der Kampf zwischen Ost und West identisch ist mit jenem zwischen Diktatur und Freiheit, macht sich überflüssig.
Zuhören statt Westsplaining
Doch andererseits ist es auch nicht so einfach, Mason zu widersprechen. Und zwar nicht deshalb, weil man sich zum Ziel wütender Angriffe macht, wenn man weiterhin daran erinnert, dass die Geschichte «des Westens» vor allem die einer imperialistischen Beutegemeinschaft ist. Das viel grössere Problem ist, dass eine linke Kritik «des Westens» den Dialog mit denen erschwert, die im Augenblick eigentlich unsere wichtigsten Verbündeten sein sollten: mit denjenigen, die in den postsowjetischen Gesellschaften gegen die autoritären Regimes und für Gleichheit, Freiheit, Solidarität aufbegehren.
Paul Masons Position hat den entscheidenden Vorteil, dass diejenigen, die in der Ukraine, in Kasachstan oder Russland mit dem System Putin konfrontiert sind, mit ihr etwas anfangen können: Wer in Charkiw im Bunker oder in Moskau im Gefängnis sitzt, fände es vermutlich ganz gut, zur «westlichen Wertegemeinschaft» zu gehören.
Dieses Argument sollten wir vom Kopf auf die Füsse stellen: Der entscheidende Fehler der «westlichen Linken» in den letzten Jahren war nicht, die Nato kritisiert zu haben, sondern Russland durch die geopolitische Brille gelesen und damit die innerrussischen Herrschaftsverhältnisse unsichtbar gemacht, ja legitimiert zu haben. Diese Haltung war das Gegenteil von internationaler Solidarität: Statt sich auf die Menschen zu beziehen, die in postsowjetischen Oligarchien Widerstand leisten, haben sich die meisten Linken ins geopolitische Ränkespiel einsortiert.
Das muss anders werden, aber wie? Eine erste Voraussetzung dafür wäre ganz sicherlich ein Minimum an Empathie. Zuhören statt Westsplaining. Denn die Kommunikationslosigkeit hat auch damit zu tun, dass die Opposition in postsowjetischen Gesellschaften ganz andere Prioritäten setzt. Eigentlich ist nicht besonders schwer zu verstehen, warum. In von postkommunistischen Geheimdiensteliten (und von neureichen Konzerneigentümern) beherrschten Staaten, in denen der Stalinismus manche gesellschaftlichen Strukturen bis heute prägt, wird man mit roten Fahnen wenig anfangen können und sich stattdessen primär um Freiheitsrechte kümmern, die es einem überhaupt erst erlauben, zu sprechen und sich zu organisieren. Ein Anliegen, das sich aus «westlicher» Sicht mit dem Programm des bürgerlichen Liberalismus zu decken scheint: Gewaltenteilung, Korruptionsbekämpfung, die Einhegung von Gangsterpraktiken, Menschenrechte …
Die zweite Voraussetzung für einen neuen Internationalismus wäre, sich in Erinnerung zu rufen, worauf die linke Kritik am Liberalismus ursprünglich hinauswollte. Sie richtete sich nämlich nicht gegen Grundrechte, Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit, sondern dagegen, dass der Liberalismus seine Freiheiten sehr ungleich verteilte und vielen ganz vorenthielt. So entpuppt sich der klassische Liberalismus bei genauerer Betrachtung als, wie es der kanadische Politologe C. B. Macpherson vorgeschlagen hat, «Theorie des Besitzindividualismus» und die westliche Aufklärung ausserhalb Europas als Instrument zur Durchsetzung kolonialer Herrschaftsansprüche. Der Liberalismus hat nach innen für Ungleichheit und damit auch Unfreiheit gesorgt, der Westen nach aussen Sklaverei und Genozid produziert.
Gegen die Bastionen des Autoritarismus
Gerade in diesen Tagen, da die Erzählung von der demokratischen Staatengemeinschaft auch ansonsten kritischen Menschen so selbstverständlich über die Lippen geht, muss daran erinnert werden, dass viele der Errungenschaften, die heute als «liberal» gelten, gegen den Liberalismus seiner Zeit und gegen den bürgerlichen Rechtsstaat erkämpft werden mussten. Die Frauenemanzipation wurde von Feministinnen und Suffragetten durchgesetzt, das allgemeine Wahlrecht ging aufs Konto der Arbeiter:innenbewegung, und für die Abschaffung der Sklaverei sorgten aufständische Sklav:innen – und nicht etwa die Väter der US-Verfassung, von denen so mancher selbst ein Sklavenhalter war.
Ist diese Unterscheidung zwischen den freiheitlichen Errungenschaften, die man gegen autoritäre Bewegungen verteidigen muss, und «dem Westen», den wir nicht verteidigen sollten, nicht eine Spitzfindigkeit, die in Anbetracht des Krieges niemanden interessiert? Geht es für die Menschen in Osteuropa nicht einfach darum, das System Putin zu stoppen – egal mit wem und welchen Mitteln? In Kyjiw oder in Moskau wird man das zu Recht so sehen. Aber für diejenigen, die sich wie Paul Mason den Kopf darüber zerbrechen, mit wem Freiheitsrechte und demokratische Mindeststandards verteidigt werden sollten, wird die Frage schneller wieder relevant werden, als wir es uns wünschen. Weder die westliche Staatengemeinschaft noch die Nato sind Garanten der politischen und sozialen Errungenschaften. Das Demokratische und seine Freiheiten wurden dem politischen System in gesellschaftlichen Kämpfen aufgezwungen und können auch nur gesellschaftlich verteidigt werden. Armeen und Sicherheitsapparate hingegen waren und sind überall Bastionen des Autoritarismus – sie sind die denkbar schlechtesten Verbündeten bei der Verteidigung von Grundrechten. Nach einem Wahlsieg Le Pens oder einem erneuten Trumps würden sich viele dessen erschrocken wieder bewusst werden. Dann würde sich die Frage, welche Armee und welche Staatsführung die Freiheiten gerade am stärksten bedroht, schon wieder ganz anders darstellen.
Nein – was heute fehlt, ist nicht der gegen Russland oder China gerichtete Schulterschluss mit dem Westen, sondern eine neue Internationale derjenigen, die auf ganz unterschiedliche Weise und noch ohne gemeinsame Sprache gegen den Autoritarismus und gegen die in China, Russland, den USA und der EU überall exorbitant gewachsene soziale Ungleichheit aufbegehren.