Anerkennung mit Auflagen
Gerade in Kriegszeiten offenbart die mediale Berichterstattung grobe Leerstellen, indem sie der Komplexität migrantischer Identitäten nicht gerecht wird. Wie so oft liegt das Grundproblem im fehlenden Perspektivenreichtum.
Derzeit besteht ein öffentliches Bedürfnis nach eindeutigen Identitäten, die fast plakativ für das Gute oder das Schlechte stehen. Im Hinblick auf den Kriegshorror, den der russische Diktator über die Ukraine gebracht hat, ist das vollkommen verständlich: Um den Schrecken irgendwie zu verarbeiten, braucht es Gesichter, Meinungen, Emotionen, Expertise. Medien schaffen damit Identifikations- und Projektionsflächen, damit wir, obwohl unser Lebensalltag oft kaum etwas mit dem 2000 Kilometer östlich von uns stattfindenden Krieg zu tun hat, eine Beziehung zu den Geschehnissen aufbauen können. So funktioniert Berichterstattung.
Das Problem dabei: Oft verkennt diese Berichterstattung die Komplexität der migrantischen Identitäten, mit denen sie nun tagein, tagaus hantiert.
Klappe halten oder schubladisiert werden
Ich stelle das aus einer Betroffenenperspektive fest: Weil meine Herkunft von der Öffentlichkeit als russisch – und zwar oft ausschliesslich russisch – gelesen wird, meine Meinung und mein Auftreten aber gut in die schweizerische Berichterstattung passen (recht logisch, wenn man bedenkt, dass ich eine Schweizerin bin), werde ich regelmässig dazu eingeladen, mich öffentlich zu äussern. Die mir gebotene Bühne löst bei mir stets widersprüchliche Gefühle aus: Einerseits möchte ich als Politikerin aus dem links-progressiven Lager nicht die Gelegenheit verpassen, für Frieden, Menschenrechte und Gerechtigkeit einzustehen. Andererseits muss ich das Risiko eingehen, dass meine Identitäten dieser «Gelegenheit» zum Opfer fallen. Folglich muss ich mich entscheiden: Entweder ich halte die Klappe, in der Hoffnung, dass mich dies in den Augen der Mehrheitsgesellschaft weniger «anders» macht. Oder ich nehme die Einladungen an – und riskiere, als etwas wahrgenommen zu werden, was ich gar nicht bin, nämlich: russisch.
Ob es mir passt oder nicht: Ich stehe in einer Beziehung zu Russland. Ich bin dort geboren und habe dort einen Teil meiner Kindheit verbracht; meine Eltern, die ebenfalls in der Schweiz leben, sind Russ:innen; nicht zuletzt besitze ich (noch) einen russischen Pass und kann mich auf Russisch ausdrücken. Doch bereits hier endet die Liste. Was für Menschen ohne Migrationserfahrung als unverrückbares Kennzeichen einer nationalen Zugehörigkeit rüberkommt, ist für mich selbst von minderer Bedeutung. Viel wichtiger für meine Identität ist zum Beispiel meine starke Bindung zu Deutschland, wo sich meine Grundwerte und mein politisches Interesse entwickelt haben; und, in allererster Linie, mein Leben und mein Engagement in der Schweiz, dem Land, das ich meins nenne. Diese beiden Länder und die Erfahrungen, die ich dort gesammelt habe, spielen eine tausendmal wichtigere Rolle für das, was ich heute bin, als mein Geburtsland.
Meine beste Freundin, selbst eine Seconda, die die Herkunft ihrer Eltern noch prominenter als ich trägt, schimpft, wenn ich Medienanfragen mit Bezug zu Russland annehme: «So betonierst du doch nur ein russisches Bild von dir.» Also verhandle ich vor jedem Auftritt: Wie werde ich erwähnt (als Schweizerin)? Für wen spreche ich (für mich selbst)? Welche Information über mich ist am relevantesten (meine Parteizugehörigkeit und mein Job)? Oft klappt das, doch manchmal finde ich mich mit den verzerrtesten Darstellungen meiner selbst wieder (wie unlängst im «Tages-Anzeiger», wo ich der «russischen Diaspora» zugeschrieben wurde: Blöd nur, dass weder ich noch die russische Diaspora davon etwas wissen).
Eine himmelschreiende Unterrepräsentierung
Warum das so wichtig ist, für mich, meine beste Freundin und sehr viele andere Menschen: Wir stehen immer vor der Gefahr, dass uns die Legitimität als Schweizer:innen genommen wird. Wenn ich über die Schwierigkeiten der Digitalisierung der Schweizer Verwaltung erzähle oder über meinen Schmerz über die russische Invasion in der Ukraine: Ich tue beides aus der gleichen Identität heraus. Doch ich gehe stets das Risiko ein, in diesen beiden Situationen anders vermittelt zu werden, der Einfachheit, des Effektes wegen. Was dies anrichtet, dessen sind sich die wenigsten Medien bewusst. Schliesslich gilt auch in der Schweizer Medienwelt, womit wir jeden Tag in der Politik zu kämpfen haben: Es gibt eine himmelschreiende Unterrepräsentierung der Menschen mit Migrationsgeschichte. Ein Missstand, der eine ungenügende Sensibilisierung für die Komplexität migrantischer Identitäten mit sich bringt.
Ich habe mich entschieden, weiterhin öffentlich aufzutreten und gleichzeitig meine Identitäten zu verteidigen. Ohne Entweder-oder, egal wie komplex das auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Migration nimmt so viel: Selbstverständlichkeit, Netzwerk, Familie, bisweilen auch das Gefühl, irgendwo auf der Welt ein «richtiges» Zuhause zu haben. Manchmal gibt sie aber auch ungeahnte Ressourcen: zum Beispiel die Gestaltungskraft, die ein reicher Perspektivenschatz mit sich bringt.
In der Welt, die sich zwischen Klimakatastrophe, Kriegen und globaler Ungleichheit immer deutlicher abzeichnet, wird es von uns Migrant:innen nicht weniger geben, sondern mehr. Und jede:r von uns wird auch in Zukunft ein Set an Identitäten mitbringen: in die Wirtschaft, die Politik und die Medien unserer Länder.
Der Kampf um die Anerkennung dieser Komplexität hat begonnen.
* Olga Baranova (31) ist Genfer SP-Politikerin. Sieben Jahre lang war sie Gemeinderätin, hat zehn Jahre als Parteisekretärin gearbeitet und war dann Kampagnenleiterin der «Ehe für alle»-Initiative. Seit letztem Jahr ist Baranova Geschäftsleiterin des parteiunabhängigen Vereins CH++, der sich für mehr Wissenschaft und Digitalisierung in der Politik einsetzt.