Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

«Wisst ihr in Europa eigentlich, dass eine Hungerkrise droht?»

«Der Staat schiebt alles auf lokale Behörden ab»: Gewerkschafter Aleksandr Skyba in Lwiw. Foto: Sebastian Bähr

Der ukrainische Eisenbahngewerkschafter Aleksandr Skyba über Privatisierungsbestrebungen bei der Bahn, abgezweigte Hilfslieferungen und akute Güterknappheit. 

WOZ: Herr Skyba, welche Rolle spielt die Eisenbahn im Krieg?

Aleksandr Skyba: Eine Schlüsselrolle. Wir befördern nicht nur Menschen, sondern auch alle möglichen Hilfsgüter und militärisches Material. Die Bahn ist die wichtigste Form der Mobilität im Land, ohne sie wären viele Städte isoliert – gerade jetzt, wo es Probleme mit der Benzinversorgung gibt. Wir Eisenbahner tragen eine grosse Verantwortung. Zu Beginn des Kriegs waren wir am Anschlag, Schichten von bis zu dreissig Stunden, ohne Essen oder Schlaf, an der Tagesordnung. Mit unseren Evakuierungszügen wurden Millionen Geflüchtete in den Westen des Landes gebracht, wir versorgten die Territorialverteidigung, brachten Lebensmittel und Medikamente in die umkämpften Gebiete. Wir kümmerten uns um alles, wofür der Staat nicht sorgen konnte. 

Immer wieder greifen die russischen Streitkräfte Bahnhöfe und Zugstrecken an. In welchem Zustand befindet sich die Infrastruktur?

Ja, es gab Zerstörungen, auch einige andere Unwägbarkeiten. Die Arbeiter sind aber rund um die Uhr damit beschäftigt, die Strecken wieder instandzusetzen. Es gibt zwar Verspätungen, aber die Züge fahren. Ich denke, dass alles bald wieder ganz normal funktioniert. 

Sie sind bei der Freien Gewerkschaft der Eisenbahner aktiv. Welche Fragen beschäftigen Sie da gerade am meisten?

Im Moment sind zwei Themen besonders wichtig: die Ausstattung unserer Mitglieder, die in den Reihen der Armee sind, mit Helmen, schusssicheren Westen und Erste-Hilfe-Kits, und die Unterstützung jener Kolleg:innen, deren Häuser durch Bomben und Artilleriebeschuss zerstört wurden. Sie haben Schwierigkeiten, für ihre Verluste entschädigt zu werden. Der Staat schiebt alles auf lokale Behörden ab, die aber wohl kein Geld für Kompensationszahlungen haben. Die Regierung wird also sagen, sie habe alles getan, und die Gemeinden werden sagen, sie hätten kein Geld, weil sie von der Regierung keines erhalten haben. Ich will den Kampf mit den Behörden aufnehmen, damit meine Kolleg:innen Unterstützung erhalten. Ein weiteres Problem ist aus unserer Sicht, dass die humanitäre Hilfe, die massenweise ins Land kommt, mutmasslich in den Regalen der Supermärkte landet. 

Wie gelangen die Hilfslieferungen denn in die ukrainischen Supermärkte?

Die Güter werden am Zoll abgewickelt, landen dann in Lagerhäusern, wo sie lizenziert werden, und schliesslich in den Läden. Man sieht das an den Verpackungen von Konserven oder Duschgel, die auf Deutsch, Polnisch oder Finnisch angeschrieben sind. Ich habe auch schon Fotos von Armeeuniformen gesehen, die für Soldaten eigentlich gratis wären: Im Supermarkt waren sie mit einem Etikett versehen, auf dem «Nicht für den Verkauf bestimmt» stand – und trotzdem standen sie zum Verkauf. Wir konnten allerdings bisher nicht beweisen, dass das auf illegalem Wege geschieht – wir haben uns an die lokalen Behörden gewandt, aber noch keine Antwort erhalten. Würde man die humanitäre Hilfe an die kleinen Gewerkschaften schicken, bei denen eine Person ihre Kontaktdaten hinterlässt und unterschreibt, würden die Güter nicht in kriminelle Hände gelangen, sondern dort landen, wo sie gebraucht werden.

Vor dem Krieg war die Privatisierung der ukrainischen Bahn ein grosses Thema. Wie hat sich diese Debatte inzwischen verändert? Und welche Zukunft erwartet die Bahn?

Die Zukunft vorauszusagen, traue ich mich zurzeit nicht. Aber zumindest im Moment wird nicht über die Privatisierung geredet, die Oligarchen bewerten solche Investitionen offenbar als zu riskant. Vor dem Krieg lagen uns Insiderinformationen vor, dass sie den gewinnbringendsten Teil – die Lokomotiven und Waggons, alles, was den Gütertransport betrifft – kaufen wollten, während das verlustreiche Passagiergeschäft dem Staat geblieben wäre. 

Der Staat war vor dem Krieg also bereit, die profitablen Teile zu verkaufen?

Man hat die Bahn so betrieben, dass es ein verlustreiches Geschäft war. Einige gute Projekte wurden nicht realisiert, Zubehör und Kohle wurden zu überteuerten Preisen gekauft. Es gab Korruptionsfälle, die aber juristisch nicht weiterverfolgt wurden. Im Vorstand oder in den Aufsichtsbehörden sassen Leute, die sehr weit von der Eisenbahn weg waren und für ihre Entscheide nie Verantwortung übernehmen mussten. Ich kann mich zwar auch an gute Leute erinnern, aber in der Regel wurden sie unter dem Einfluss der Oligarchen von ihren Posten entfernt. Ich vermute, dass die Diskussion um die Privatisierung nach dem Krieg wieder aufkommt.

Was würde eine solche Privatisierung für die Arbeiter:innen bedeuten?

Weil die Bahn nicht mehr staatlich wäre, würden viele Gesetzesartikel nicht mehr gelten. Ich sehe keine positiven Veränderungen, zumindest langfristig nicht. Möglicherweise steigen kurzfristig die Löhne, dann aber würden sich die Arbeitsbedingungen verschlechtern – und vor allem die Sicherheit. Für einen privaten Eigentümer stünde der Profit an erster Stelle, dabei muss die Bahn doch den sicheren Transport von Menschen und Waren garantieren. Ich möchte aber noch etwas anderes ansprechen.

Sehr gerne. 

Wisst ihr in Europa eigentlich, dass eine Hungerkrise droht? Bis zum Krieg gab es drei Möglichkeiten, an Düngemittel zu kommen: Eine Produktionsstätte war die Fabrik Stirol in Horliwka, die aber inzwischen auf besetztem Gebiet steht und nicht mehr in Betrieb ist. Hinzu kamen die Lieferungen aus Belarus sowie jene aus Russland in die Häfen von Odesa und Mikolajiw, die nun ebenfalls nicht mehr stattfinden können. Diesen Frühling kamen keine Dünger ins Land – es wird also eine gravierende Unterversorgung mit Getreide geben, und das im globalen Massstab. Aus den besetzten Gebieten wird Getreide im grossen Stil herausgeschafft, während die Ukraine weiterhin Getreide exportiert. Hinzu kommt, dass der Vormarsch der russischen Armee wohl verhindern wird, dass geerntet werden kann.

Die Ankündigung des ukrainischen Präsidenten, ganz Europa ernähren zu wollen, halte ich deshalb für völlig unrealistisch – es kann sein, dass wir in der Ukraine im Herbst nichts mehr zu essen haben. Bisher habe ich keine ernsthaften Massnahmen gegen diese drohende Krise gesehen. Zudem exportieren Russland und die Ukraine bis zu siebzig Prozent des weltweiten Pflanzenöls, unter anderem nach Deutschland, Frankreich und in die Schweiz. Wie wir dieses wichtige Produkt weiter liefern können und in welcher Menge, lässt sich zurzeit nicht sagen. Wir steuern auf eine Katastrophe zu. 

Werden auch andere Güter knapp?

Ein Problem wird es auch bei der Versorgung mit Eisenerz geben. Die russische Armee versucht offenbar gerade, die Eisenbahnverbindung nach Krywyj Rih zu kappen, Anfang Mai wurden die Bahnhöfe der Orte Dolynska und Tymkowe beschossen. Und aus dem Eisenerzbassin bei Krywyj Rih gingen riesige Lieferungen über Uschhorod in die Slowakei oder in die Häfen am Schwarzen Meer. Ein weiterer Gigant in Sachen Metallurgie und Verarbeitung von Koks ist Saporischschja, von wo aus zurzeit ebenfalls keine Güter geliefert werden können. Das wird die europäische Wirtschaft wohl bedeutend treffen, vor allem im Automobil- und Schiffsbau. Mir scheint, als würde im Ausland kaum jemand diese Vorgänge wahrnehmen. 

Wir sprechen hier am Rand einer Solidaritätskonferenz mit ukrainischen Linken und Gewerkschafter:innen in Lwiw. Was würden Sie den Schweizer Gewerkschaften gern als Botschaft mitgeben – was können sie tun, um die Arbeiter:innen in der Ukraine zu unterstützen?

Ich wünsche ihnen viel Erfolg in ihrem Kampf für die Rechte der Arbeiter:innen in der Schweiz! Dieser Kampf braucht in jedem Land Kraft und Geduld, wir müssen unsere Rechte überall verteidigen und dürfen uns nirgendwo zurücklehnen. Was die Hilfe angeht, brauchen wir folgende Dinge: Unterstützung für unsere Soldat:innen und Medikamente für die besetzten Gebiete.

Aleksandr Skyba ist in der südukrainischen Stadt Melitopol geboren, die zurzeit unter russischer Besetzung ist. Seit 2007 lebt er in Kyjiw und arbeitet als Lokführer. Skyba ist bei der Freien Gewerkschaft der Eisenbahner (VPZU) aktiv, die rund 50 000 Mitglieder hat. Insgesamt arbeiten im ukrainischen Eisenbahnsektor rund 240 000 Personen. Einen Bericht über die Konferenz in Lwiw lesen Sie hier