Stimmen aus dem Krieg: «Nachts ist es am schlimmsten»
In Kiew organisiert eine Musikerin Hilfsgüter. Ein Unternehmer unterstützt in Ternopil Geflüchtete. Und ein Journalist berichtet von der Lage in Lwiw. Drei Geschichten aus einem umkämpften Land.
In Mariupol fehlt es an allem. Wasser, Lebensmittel, Medikamente sind knapp, Menschen harren bei Minustemperaturen in ungeheizten Kellern aus, die Infrastruktur ist zusammengebrochen. Das IKRK warnt vor einem «Worst-Case-Szenario» und ruft dazu auf, Hilfsgüter in die Hafenstadt am Schwarzen Meer zu lassen. Ein entsprechender Transport soll seit Tagen vor der Stadt stehen.
Am Montag verbreitete die ukrainische Nachrichtenagentur Unian auf Telegram ein Drohnenvideo zum Ausmass der Zerstörung: Rauch über zerbombten Häusern, ganze Strassenzüge in Trümmern. Nach Angaben der ukrainischen Behörden soll es mindestens 2300 Tote gegeben haben. Überprüfen lässt sich vieles nicht, Kontakt zu den bis zu 300 000 Menschen, die seit zwei Wochen eingekesselt sind, ist kaum möglich. Am Dienstag konnten laut Angaben des Stadtrats auf Telegram immerhin fast 20 000 Zivilist:innen die Stadt verlassen. Zuvor war die Einrichtung eines humanitären Korridors immer wieder am Beschuss der russischen Armee gescheitert.
Helfen, um nicht durchzudrehen
Auch Olesia Onykiienko hat Freund:innen in Mariupol. Immer wieder schreibt sie ihnen, eine Antwort hat sie bisher nicht erhalten. Onykiienko ist Elektromusikerin und Kuratorin in Kiew, eigentlich war sie gerade dabei, eine Residency für ausländische Künstlerinnen zu organisieren. Dann kam der Krieg. Jetzt ist die 36-Jährige jeden Tag damit beschäftigt, Hilfsgüter zu besorgen und deren Transport in die Stadt zu koordinieren. «Am dringendsten brauchen wir Medikamente, etwa um Blut zu stillen.»
Viele der in Kiew Gebliebenen – laut den Behörden rund zwei Millionen – seien sehr aktiv, sagt Onykiienko am Telefon. Sie unterstützen ältere Nachbar:innen mit Essen und Medikamenten oder versorgen Haustiere, die von ihren flüchtenden Besitzer:innen zurückgelassen wurden. «Zu helfen, hat jetzt oberste Priorität, die Selbstorganisation der Freiwilligen ist sehr wichtig», sagt die Künstlerin. Wichtig auch, um nicht durchzudrehen.
Die Menschen in der umkämpften Stadt versuchen, zumindest ein Stück Normalität zu bewahren: etwas Sport, raus an die frische Luft, jetzt, wo langsam der Frühling kommt. Nachts sei es am schlimmsten, sagt Onykiienko, nachts komme der Sound des Kriegs, der einschlagenden Raketen näher. Am Anfang hätten sich viele in der Metro versteckt, doch das lasse sich nicht ewig durchhalten. Jetzt schlafen sie meist in den Fluren ihrer Wohnungen, zwischen zwei Wänden, möglichst weit weg von Fenstern, die bersten könnten. «Keiner weiss, wie sicher das ist, aber es ist zumindest etwas.»
Viele ihrer Freund:innen haben die Stadt verlassen, sind nach Polen oder in den Westen des Landes geflüchtet. Onykiienko will vorerst bleiben: weil ihr Freund Teil der Territorialverteidigung ist, weil ihre Eltern zu alt sind, um zu fliehen. Weil sie sich nicht vorstellen kann, im Ausland ohne sie zu sein, wie sie sagt.
Während Onykiienko mit ruhiger Stimme vom Leben im Krieg berichtet, geht dieser unvermindert weiter. In den letzten Tagen waren neben Mariupol etwa Mykolajiw im Süden des Landes, das an einer Verbindungsstrasse nach Odessa liegt, und die Orte rund um Charkiw im Osten stark umkämpft. Zwischen der Ukraine und Russland wird derweil weiterverhandelt – bisher ohne nennenswerte Ergebnisse. Immerhin zeigte sich Präsident Wolodimir Selenski am frühen Mittwochmorgen leicht optimistisch: Die Positionen würden «realistischer» klingen. Kurz zuvor hatte er die Staatsoberhäupter von Polen, Tschechien und Slowenien in Kiew empfangen.
Flucht vor der «russischen Welt»
Nach Berechnungen der Uno sind inzwischen rund 6,7 Millionen Menschen innerhalb der Ukraine auf der Flucht. Auch Roman Huba stieg am ersten Tag des Kriegs – vor nunmehr drei Wochen – in den Zug nach Lwiw. Den vereinbarten Anruf am Montagabend nimmt er nicht an, ein paar Sekunden später kommt eine knappe Nachricht: «Entschuldige, ich bin im Luftschutzbunker, rufe zurück.» Mal seien es sechs Stunden am Tag im Bunker, mal eine, erzählt der 28-Jährige, als das Gespräch später doch noch klappt.
Huba kommt ursprünglich aus der Nähe von Donezk und arbeitet als Journalist. 2014, als im Osten der Ukraine der Krieg ausbrach, ging er nach Lwiw, später nach Kiew und ins Ausland. Nun erzählt er davon, wie in der Grossstadt unweit der polnischen Grenze die Preise explodieren und der Wohnraum knapp wird, weil mehrere Hunderttausend Menschen dorthin geflohen sind. Sie leben in Turnhallen, Hotels oder Schulhäusern, kommen privat unter.
«Die Westukraine ist gerade relativ sicher – aber wer weiss, wie lange noch», sagt Huba. Die Sperrstunde sei nicht so streng wie andernorts, Lebensmittel noch ausreichend vorhanden. Mit dem Beschuss des Militärlagers an der Grenze zu Polen am Wochenende ist aber auch in Lwiw der Krieg ein ganzes Stück näher gekommen. Die Stimmung werde entsprechend immer düsterer. «Die Menschen sind vor den Bomben geflohen, nun fühlen sie sich auch hier unsicher», sagt Huba. Die ersten Opfer der russischen Aggression seien ausgerechnet die Bewohner:innen jener Gebiete gewesen, in denen überwiegend Russisch gesprochen wird. «Und in Kiew verstecken sich die Leute vor der sogenannten russischen Welt in der Metrostation am Tolstoi-Platz, in Charkiw in einer, die nach Puschkin benannt ist.»
Etwas Positives kann Huba der aktuellen Situation dennoch abgewinnen. Die staatliche Eisenbahn, die vor dem Krieg als alt und ineffizient verschrien war, leiste tolle Dienste. «Züge evakuieren Menschen auch aus Regionen, die man mit dem Auto nicht mehr verlassen kann», sagt er. Früher habe man die Arbeiter:innen und ihre Bedürfnisse weitestgehend ignoriert, viele forderten die Privatisierung der Bahn. Jetzt würden jene, die die Infrastruktur sicherten, als Held:innen gefeiert. «Ich hoffe, dass manche Errungenschaften auch nach dem Krieg bleiben.»
Optimismus und Kampfeswille
Rund zwei Autostunden östlich von Lwiw steht Artur Martsiuk auf dem zentralen Platz von Ternopil und gibt per Videocall eine Stadtführung. Wie Olesia Onykiienko in Kiew leistet auch der 24-jährige Unternehmer zurzeit vor allem Freiwilligenarbeit: Geflüchtete am Bahnhof abholen, Unterkünfte organisieren, das Nötigste bereitstellen. Auf Social Media sehen seine Frau und er, was gerade benötigt wird.
Dass Ternopil bisher nicht bombardiert worden sei, liege daran, dass es dort keine militärische Infrastruktur gebe, sagt er. Rund die Hälfte der 300 000 Einwohner:innen seien geflohen, nun kämen Zehntausende in die Stadt, meist bloss für eine Pause, bevor sie weiter nach Westen flüchteten. Niemand habe sich vorstellen können, dass so etwas passiere, dass Menschen wochenlang in Bunkern ausharren müssten. In Mariupol würden sie Schnee schmelzen, um etwas zu trinken zu haben. «Es ist alles so schrecklich», sagt Martsiuk.
Auch er hat Angst, dass der Krieg in seine Stadt kommt, manchmal heulen fünfmal am Tag die Sirenen. Er deutet auf eine Puschkin-Statue hinter dem Platz: «Niemand hat sie niedergerissen, viele hier sind zweisprachig. Jeden Tag erzählt das russische Regime neue Märchen.» Die Familie des jungen Mannes sitzt auf gepackten Koffern: immer bereit zu fliehen. Er selbst, sagt er, würde bei einem Angriff die Waffe in die Hand nehmen und sein Land verteidigen. «Aber im Moment braucht es uns hier, um zu helfen.» Am wichtigsten sei es, optimistisch zu bleiben, sagt Martsiuk am Ende der Stadtführung. «Wir geben nicht auf.»