Konferenz in Lwiw: Die Schaltzentrale des Widerstands
Letzte Woche traf eine internationale Delegation in Lwiw auf ukrainische Gewerkschafter und Aktivistinnen. Die WOZ hat sie dabei begleitet. Welche Fragen die Arbeiter:innen im Land derzeit am meisten beschäftigen – und warum die Anarchist:innen auf Teile der westlichen Linken wütend sind.
Es ist eine bunte Truppe, die an diesem sonnigen Mittwochnachmittag Anfang Mai vor dem Iwan-Franko-Denkmal im Herzen von Lwiw kämpferisch die Fäuste in die Luft reckt. Linke Parlamentarier:innen aus Finnland, Dänemark, Polen und der Schweiz stehen neben Feministinnen, Ökoaktivisten und Gewerkschafter:innen aus Katalonien und Frankreich, Belgien, Grossbritannien und der Ukraine.
Über zwei Dutzend Personen aus zehn Ländern hat das Bündnis European Solidarity Network with Ukraine auf Einladung der ukrainischen Organisation Sozialnyi Ruch in Lwiw zusammengetrommelt. Das internationale Gipfeltreffen ist so etwas wie ein linker Gegenentwurf zu den Besuchen westlicher Staatsoberhäupter, die sich zurzeit mit Reisen durchs Kriegsgebiet profilieren. «Wir wollten nicht nur über die Situation in der Ukraine diskutieren, sondern konkrete Hilfe leisten», sagt Stéfanie Prezioso, die als Genfer Vertreterin der linksradikalen Koalition Ensemble à Gauche im Nationalrat sitzt und die Reise mitorganisiert hat. «Eine Möglichkeit war, hierherzukommen und uns mit der ukrainischen Linken und deren Kampf gegen die russische Invasion solidarisch zu zeigen.»
Die Kulisse fürs Gruppenfoto der Delegation ist dabei nicht zufällig gewählt. Iwan Franko war nicht bloss einer der bekanntesten Dichter der Ukraine, sondern hat auch Werke von Marx oder des Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon übersetzt. Und er war bekennender Sozialist, wie Wladislaw Starodubtsew in seinem kurzen historischen Abriss betont. «Viele wollen diesen Teil seiner Geschichte vergessen machen», erklärt er grinsend. Dabei habe Franko im 19. Jahrhundert die lokale sozialistische Bewegung mitbegründet und sei für seine politischen Umtriebe inhaftiert worden.
Die Präsenz des Krieges
Auch Starodubtsew, der in Kyjiw Geschichte studiert, ist Teil von Sozialnyi Ruch, was auf Deutsch so viel wie «soziale Bewegung» bedeutet. Mit ihren rund hundert Mitgliedern ist die Gruppe zahlenmässig zwar nicht gerade gross – doch in einem Land, in dem es keine progressiv linke parlamentarische Kraft gibt, sind ausserparlamentarische Tätigkeiten umso wichtiger. Aus allen Himmelsrichtungen sind die Aktivist:innen nach Lwiw gereist, um den ausländischen Gästen den Alltag von Arbeiter:innen und sozialen Bewegungen im Krieg näherzubringen. Immer wieder betonen sie, wie viel ihnen dieses Treffen bedeutet.
Einige von ihnen sind aber auch gekommen, um für ein paar Tage durchzuatmen. Denn wie Hunderttausende andere Ukrainer:innen sind auch viele Linke und Anarchist:innen nach Lwiw geflüchtet, was die Stadt zu einer Art Schaltzentrale des Widerstands macht. «Viele fingen noch am Bahnhof an, sich zu engagieren», erzählt Ksenia, die Teil eines queeren Genossenschaftsprojekts ist.
Auch wenn am Abend vor der Ankunft der Delegation russische Raketen zwei Umspannwerke treffen – in Lwiw ist es deutlich ruhiger als an vielen anderen Orten. Das Leben läuft unbeirrt, fast schon trotzig weiter, Kinder spielen im Park, die Restaurants und die Geschäfte bedienen die Kundschaft, Familien flanieren durch die Strassen einer geschichtsträchtigen Stadt, die seit Jahren ein Magnet für Tourist:innen ist.
Präsent ist der Krieg, den das russische Regime gegen das Land führt, natürlich trotzdem: wenn die Sirenen des Luftalarms heulen, was mehrmals am Tag und auch in der Nacht passiert, in der Präsenz von Soldat:innen, dem Verbot, nach 20 Uhr Alkohol zu verkaufen (an das sich aber längst nicht alle Händler:innen halten) oder in der nächtlichen Ausgangssperre (an die sich ebenfalls nicht alle halten). Die Ankunft der Geflüchteten hat auch die Wohnungspreise in die Höhe getrieben. Bei einem Glas Cidre in einer befreundeten WG erzählen die Aktivisten von Sozialnyi Ruch zur Illustration einen derzeit beliebten Witz: «Elon Musk hat für 44 Milliarden Twitter gekauft. In Lwiw kannst du für diesen Preis für ein Jahr eine Wohnung mieten.»
Neue «antisoziale» Gesetze
An den zwei folgenden Tagen werden viele drängende Fragen diskutiert: Wie ergeht es den Pflegenden, den Beschäftigten im Transportwesen und auf dem Bau, in den Minen und den Atomkraftwerken? Wie wirkt sich der Krieg auf die Umwelt aus, wie auf die Geschlechterrollen und die queere Community? Wie lässt sich die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas stoppen? Und warum ist die Unterstützung der Ukraine im Interesse aller Arbeiter:innen weltweit?
Die rund vierzig Konferenzteilnehmer:innen sitzen in einem pompösen Saal samt funkelndem Kronleuchter im achten Stock eines schmucklosen Tagungshotels ausserhalb des Zentrums. Der trotzkistische ehemalige französische Präsidentschaftskandidat Olivier Besancenot, der die Delegation filmisch begleitet, schleicht mit seiner Kamera umher. Worum es Sozialnyi Ruch geht, erklärt ihr Vorsitzender Witali Dudin in seinem adretten rot-weiss karierten Hemd gleich zu Beginn. Die Ukraine durchlebe gerade die grösste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. «In dieser Situation ist internationale Solidarität, die Unterstützung nicht nur von ausländischen Präsident:innen, sondern auch von Aktivist:innen nötiger denn je: um unsere Bewegung zu konsolidieren und – wenn der Krieg zu Ende ist – eine progressive Zukunft aufbauen zu können», sagt er.
Dudin ist studierter Arbeitsrechtler – entsprechend beschäftigen ihn die «antisozialen Gesetze», wie er mehrere neue Bestimmungen nennt, die vom Parlament zuletzt durchgewinkt wurden. Seit der Ausrufung des Kriegsrechts sind Streiks verboten, das Arbeitsinspektorat hat seine Besuche in den Betrieben eingestellt, im öffentlichen Sektor werden viele Löhne nicht mehr gezahlt, Hunderttausende, wenn nicht Millionen haben ihren Job verloren. Gerade im Krieg, wo die Rechte der Beschäftigten gestärkt und nicht geschwächt werden müssten, bleibe den Gewerkschaften zum Schutz ihrer Mitglieder nun wenig Raum, sagt er. «Die Arbeiter:innen leiden als Erste unter dem Krieg, es gibt aber keine Partei, die ihre Interessen vertritt, und auch innerhalb des politischen Systems haben sie keinen Einfluss.»
Symbolisch für die dramatischen Einschnitte steht das Gesetz mit der Nummer 2136, das unter anderem den Kündigungsschutz gelockert und die maximale Arbeitszeit auf sechzig Stunden pro Woche erhöht hat. Die temporäre Massnahme habe die Situation der Unternehmen nicht stabilisiert, deren Schulden seien aber ohnehin nicht das Hauptproblem, weil sie den Staat um Hilfe bitten oder bei der Bank Kredite beantragen könnten. Dafür habe die neue Bestimmung Menschen in die Armut gestürzt.
Sozialnyi Ruch fordert die Aufhebung des Gesetzes 2136; Dudin kritisiert aber auch die kürzlich verabschiedete Reform, die Steuern für Unternehmen gesenkt und so die Gewinne zu den Reichen transferiert habe. «Wir sind gegen diese neoliberalen Reformen und dass der Krieg als Vorwand benutzt wird, um unsere Rechte zu schwächen.» Auch Geschichtsstudent Wladislaw Starodubtsew beurteilt die Politik der Regierung zwiespältig. «Wir unterstützen Selenski als Symbol des ukrainischen Widerstands, er hilft dabei, die Moral der Leute zu heben. Was wir aber ablehnen, ist seine antisoziale Politik – in einer Zeit, in der die Menschen grösstmögliche Stabilität brauchen.»
Die Folgen der Austeritätspolitik
Während Selenskis Regierung die Rechte der Arbeiter:innen also empfindlich einschränkt, stehen viele von ihnen ohnehin vor grossen Herausforderungen. Von den Fragen, die seine Leute zurzeit beschäftigen, berichtet im pompösen Konferenzsaal des Tagungshotels etwa der Kyjiwer Lokführer Aleksandr Skyba von der Freien Gewerkschaft der Eisenbahner (VPZU). «Wir transportieren nicht nur Millionen Menschen, sondern auch alle möglichen Materialien und Hilfsgüter: Die Bahn ist zurzeit die wichtigste Form der Mobilität im Land, ohne sie wären viele Städte isoliert», sagt er. «Wir Eisenbahner tragen eine grosse Verantwortung.»
Gerade zu Beginn des Krieges seien Schichten von bis zu dreissig Stunden, ohne Essen oder Schlaf, an der Tagesordnung gewesen. Die VPZU versorgte die Bataillone der «Territorialverteidigung» mit Material, brachte Lebensmittel und Medikamente in die umkämpften Gebiete. «Wir kümmerten uns um alles, wofür der Staat nicht sorgen konnte», so Skyba. Ähnliche Aufgaben haben auch die meisten anderen Gewerkschaften übernommen: Sie versorgen ihre Mitglieder mit allem Nötigen, setzen sich für deren Rechte ein und helfen bei der Flucht.
Welche drastischen Folgen die Austeritätspolitik der letzten Jahre in einer Situation wie der jetzigen haben kann, erklären wiederum Gewerkschafter:innen aus dem Gesundheitssektor: Die auf Profit getrimmten Spitäler seien schon auf die Coronapandemie schlecht vorbereitet gewesen, der Krieg habe alles nur noch schlimmer gemacht. Zwar habe man auch gewisse Erfolge erkämpft, etwa die Löhne stabilisiert; die Spitäler hätten dann aber nicht das Geld gehabt, um die vereinbarten Löhne zu zahlen. «So wurden sie zu Geiseln des Systems, mussten einen Teil der Belegschaft entlassen, was die Arbeitsbedingungen verschlechterte», sagt Serhi Kubanskyy aus Kyjiw. Ein weiteres Problem sei, dass die Beschäftigten des Gesundheitssektors das Land zurzeit nicht verlassen dürften – wer es dennoch tue, verliere den Job. «Die Gewerkschaften können diese Leute nicht schützen.»
Besonders alarmierend ist derweil der Bericht von Pawlo Oleschtschuk, der die Gewerkschaft Atomprofspilka der Arbeiter:innen im Nuklearbereich vertritt. Oleschtschuk hat selbst siebzehn Jahre lang in Saporischschja gearbeitet, Europas grösstem Atomkraftwerk, das zurzeit unter russischer Kontrolle steht. Dort sei die Situation besonders prekär: Die Besetzer verstünden nicht, wo sie sich befänden, könnten mit den Geräten nicht umgehen.
Die Leute arbeiteten zwar weiter, befolgten aber nicht die Befehle der Eindringlinge, sagt Oleschtschuk. Er mache sich grosse Sorgen, dass die Sicherheitsvorkehrungen nicht genügend eingehalten würden. Der Gewerkschafter spricht vom «weltweit ersten Fall von nuklearem Terrorismus», für dessen Handhabe es kein Protokoll gebe. «Wir wissen, wer die Leute sind, die auf das Gelände eingedrungen sind. Sie müssen sanktioniert werden, denn sie bringen die ganze Welt in Gefahr.»
Engere Bande zum Westen
Die vielen Berichte der Gewerkschafter:innen, von Umwelt- und Antirassismusaktivist:innen, Feministinnen und den Vertretern von Sozialnyi Ruch dienen dazu, den Angereisten einen Überblick zu verschaffen. Doch immer wieder sind auch Enttäuschung und Wut über die Haltung von Teilen der westlichen Linken zu spüren: über die fehlende Solidarität, das mangelnde Verständnis für die Situation der Menschen in der Ukraine, das zuweilen in Ignoranz und Desinteresse mündet. Gerade die deutsche Linkspartei erfreut sich keiner grossen Beliebtheit. Und obwohl deren politisches Aushängeschild Gregor Gysi zeitgleich auf Besuch in Lwiw ist, scheint im Tagungshotel Sonata niemand auf ihn gewartet zu haben.
Auf Gysis Haltung gegen Waffenlieferungen angesprochen, sagt Serhi Mowtschan von Operation Solidarity, einem Projekt, das Geflüchtete und Menschen in Not unterstützt und militärische Schutzausrüstung für die Territorialverteidigung sammelt: «Unter den Linken und sogar den Anarchist:innen in der Ukraine herrscht in dieser Frage keine Verwirrung, und Solidarität bedeutet für uns mehr als bloss warme Worte. Aber wenn ihr schon keine Waffen schicken wollt, dann schickt wenigstens humanitäre Hilfe.» Die Menschen in der Ukraine hätten derzeit nicht den Luxus, zu hundert Prozent pazifistisch sein zu können, ergänzt sein Kollege Yuri Tschernata später.
Wichtig ist Mowtschan aber auch ein anderer Punkt: «Wenn du wirklich ein Linker bist, höre den Menschen vor Ort zu und versuche zu verstehen, dass die Ukraine ihre eigene Subjektivität besitzt.» Das ist auch jenen ein Anliegen, die in diesen Tagen nach Lwiw gereist sind. Nationalrätin Stéfanie Prezioso formuliert es so: «In Teilen der westlichen Linken wird Osteuropa völlig ausgeblendet, was für Internationalistinnen wie mich sehr seltsam wirkt.» Die 53-Jährige sieht den Kongress in dieser Hinsicht als Erfolg: Man habe die Bande enger geknüpft und konkrete Hilfe diskutiert. «Darauf aufzubauen, wird vor allem auch nach dem Krieg wichtig werden.»
Vielleicht lässt sich die Zusammenkunft in Lwiw gar als Startschuss eines neuen Internationalismus beschreiben, darüber sind sich auch die Gäste des abendlichen Umtrunks in der befreundeten WG einig. Ein paar von ihnen sagen, sie hätten seit Kriegsausbruch kaum noch Alkohol konsumiert, die Trinksprüche wurden dennoch an die neue Realität angepasst: «Tod für Putin, lang lebe der Frieden», wünscht sich einer der Aktivisten beim Anstossen.
Ausführliche Interviews mit der Nationalrätin Stéfanie Prezioso, dem Eisenbahngewerkschafter Aleksandr Skyba und den Aktivisten von Operation Solidarity lesen Sie in den kommenden Tagen auf unserem Blog zum Krieg gegen die Ukraine auf www.woz.ch/ukraine.