Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

Verantwortungslose Prahlerei ist keine Hilfe

Die Ukrainer:innen müssen selber entscheiden dürfen, welches Ziel sie im Abwehrkrieg gegen Russland verfolgen. Aber vor allem die britische Regierung übt sich in ungezügelter Kriegstreiberei.

Die Ukrainer:innen führen einen gerechten Krieg gegen eine imperialistische Invasion und verdienen deshalb Unterstützung. Ihr Recht auf Selbstverteidigung ist nicht nur gegenüber Russland von Bedeutung, sondern überhaupt für ihre Entscheidung, zu kämpfen. Sie alleine sollen entscheiden, ob sie weiterkämpfen oder einen Kompromiss eingehen wollen.

Sie haben allerdings kein Recht, andere direkt in ihre nationale Verteidigung hineinzuziehen: kein Recht darauf, dass die Nato-Mächte eine Flugverbotszone über ihrem Land verhängen oder Waffen und Ausrüstung schicken, was die Tragweite des Krieges vergrössern könnte. Sie verdienen Unterstützung, aber einzig aufgrund einer moralischen Pflicht.

Die Nato-Staaten haben ihrerseits kein Recht, den Ukrainer:innen die Bedingungen eines Friedensvertrags mit Russland zu diktieren und sie zu einer Kapitulation zu nötigen. Und umgekehrt haben sie kein Recht, die Aussicht auf einen Kompromiss zu sabotieren und die Ukrainer:innen unter Druck zu setzen, bis zur Erschöpfung zu kämpfen und sie dadurch zu einem Nato-Stellvertreter zu machen.

Die Aussage, die US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am 25. April in Polen gemacht hat, erregte erwartungsgemäss viel Aufmerksamkeit: «Wir wollen Russland in einem Mass geschwächt sehen, das es ihm unmöglich macht zu tun, was es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat.»

In den kommenden Wochen werden wir an der Haltung der US-Regierung ablesen können, ob sie maximalen Druck für ein möglichst baldiges Kriegsende ausübt und dadurch das Leiden der Ukrainer:innen verkürzt und den Schaden begrenzt, den der Krieg den USA und der Weltwirtschaft zufügt. Oder ob sie weiterhin gefährlich mit dem Feuer spielt.

Rüge für den Premierminister

Im Fall der britischen Kriegstreiberei ist die Sache viel deutlicher. Boris Johnson hat sich kopfüber in die Kriegsdiskussion gestürzt in der Hoffnung, mit diesem Knall den Lärm der vielen von ihm losgetretenen Skandale zu übertönen. Abgesehen davon haben sich der Premierminister und sein Kabinett auf ein hochgefährliches Spiel des gegenseitigen Ausstechens eingelassen.

Anders als etwa die französische und die deutsche Regierung, die diskret Waffen an die Ukraine liefern, haben sie öffentlich geprahlt mit jedem einzelnen Gut, das sie geliefert hatten, und jeder Form der Militärhilfe, die sie dem angegriffenen Land hatten zukommen lassen. Johnson hat sich gar die vernichtende Rüge eines ehemaligen polnischen Armeechefs eingehandelt, der ihm vorwarf, «das Böse zu verführen», nachdem er sich gebrüstet hatte: «Wir bilden derzeit Ukrainer in Polen in der Luftabwehr aus.»

Die Aussagen von britischen Regierungsangehörigen waren weit provokanter als jene, die in Washington gemacht wurden, von den EU-Staaten ganz zu schweigen. James Heappey, Minister für die britischen Streitkräfte, gab eine verblüffende Antwort, als er auf dem Radiosender BBC4 gefragt wurde, ob es für die Ukrainer:innen zulässig sei, britische Waffen gegen militärische Ziele auf russischem Staatsgebiet zu verwenden. Er versicherte, es sei «vollkommen legitim, militärische Ziele tief im gegnerischen Territoriums anzugreifen, um Logistik und Nachschublinien zu unterbrechen». Dann fuhr er fort: «Um ehrlich zu sein», sei es genauso «für die Russen vollkommen legitim, Ziele in der Westukraine anzugreifen, um ukrainische Nachschublinien zu unterbrechen. Vorausgesetzt, sie zielen nicht auf Zivilisten, worauf sie bisher leider nicht allzu viel Rücksicht genommen haben.»

Selbstverständlich ist es für ein Land, dessen Territorium angegriffen wird, «vollkommen legitim», Ziele auf dem Territorium des Invasors anzugreifen. Aber ist es klug, das zu tun? Und ist es vor allem klug für einen britischen Minister, dazu zu ermutigen? Natürlich nicht – nicht zuletzt, weil dies den russischen Aggressor dazu anstacheln könnte, seine Bombardements auf dem gesamten ukrainischen Territorium auszuweiten.

Wohl weil er seinen Fehler realisierte, versuchte Minister Heappey seine ursprüngliche Erklärung wiedergutzumachen, indem er dem Invasor ein gleichermassen «vollkommen legitimes» Recht zusprach, exakt das zu tun, was die Ukrainer:innen zu befürchten haben, wenn sie seinem Rat folgen.

Die waghalsige Aussenministerin

In einer pathetischen Rede mit dem pompösen Titel «Die Rückkehr zur Geopolitik» erklärte am 27. April die britische Aussenministerin Liz Truss – deren Vorbild Margaret Thatcher ist und die den Ukrainekrieg mit dem Falklandkrieg zu verwechseln scheint: «Der Krieg in der Ukraine ist unser Krieg – er ist unser aller Krieg, denn der Sieg der Ukraine ist eine strategische Notwendigkeit für uns alle. Schwere Waffen, Panzer, Flugzeuge – wir müssen tief in unsere Bestände greifen, die Produktion hochfahren. Wir müssen all das tun», sagte Truss.

Und weiter: «Wir doppeln nach. Wir werden weiter und schneller vorgehen, um Russland aus der gesamten Ukraine zu vertreiben.» Sofern die britische Regierung nicht beschliesst, Russlands Annexion der Krim anzuerkennen, verspricht die Aussenministerin somit, sich an einer Verlängerung des Krieges zu beteiligen. Und zwar nicht nur bis die Ukrainer:innen die russischen Streitkräfte aus jenen Gebieten zurückgedrängt haben, die diese nach dem 24. Februar besetzt haben. Das wäre an sich schon waghalsig genug. Stattdessen verspricht Truss eine britische Beteiligung, bis die Ukrainer:innen Russland von der Krim und aus den Regionen Donbas und Luhansk vertrieben haben – was völlig unverantwortlich ist, sowohl für die Ukraine als auch für Grossbritannien selbst.

Der Premierminister muss begriffen haben, wie gefährlich die Worte der Aussenministerin waren. In seiner Ansprache vor dem ukrainischen Parlament am 3. Mai legte er besonderen Wert darauf, den Eindruck zu korrigieren, den ihr Statement hinterlassen hatte. «Kein Aussenstehender wie ich kann leichtfertig darüber sprechen, wie der Konflikt beigelegt werden könnte», betonte Johnson. «Niemand kann oder sollte den Ukrainern irgendetwas aufzwingen.»

Der Labour-Vorsitzende Keir Starmer blieb gegenüber der Angeberei des Johnson-Kabinetts zustimmend still. Starmers einzige Obsession besteht darin, sich innerhalb seiner Partei als Anti-Corbyn darzustellen. Damit bricht er sein Versprechen einer programmatischen Kontinuität, das er einst gegeben hat, um zum neuen Vorsitzenden gewählt zu werden.

Tatsächlich ist Starmer seit seiner Wahl vor allem damit beschäftigt, die Konservativen in ihren Pro-Nato- und Pro-Israel-Standpunkten zu übertrumpfen. So herrscht im britischen Parlament ein Klima der Pro-Nato-Einigkeit, das es Johnson erlaubt, weiterhin alle anderen in gefährlicher Kriegstreiberei in den Schatten zu stellen.

Gilbert Achcar (71) ist Professor für Entwicklungsforschung und Internationale Beziehungen an der School of Oriental and African Studies (SOAS) der Universität London. Der marxistische Intellektuelle ist Autor zahlreicher Bücher und war langjähriger Experte von «Le Monde diplomatique». Dieser leicht gekürzte Artikel erschien zuerst am 7. Mai in der sozialistischen US-Zeitschrift «New Politics».

Aus dem Englischen von Raphel Albisser.