Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

Sexualisierte Gewalt: Die Angst vor Stigmatisierung

Die Beweise für systematisch ausgeübte sexuelle Gewalt durch russische Soldaten in der Ukraine häufen sich. Doch viele Überlebende erstatten keine Anzeige.

Sexuelle Überfälle mit vorgehaltener Waffe, Vergewaltigungen vor den Augen von Kindern oder von Kindern selbst: Ermittler:innen von Kriegsverbrechen in der Ukraine haben grausame Zeugnisse von sexueller Gewalt zusammengetragen.  

Sie stammen von Menschen, die fliehen konnten, und von Überlebenden aus den von russischen Truppen befreiten Gebieten. Hinweise liessen sich auch in den sozialen Medien finden oder in Gesprächen zwischen russischen Soldaten und Verwandten oder Freunden in Russland, die vom ukrainischen Geheimdienst abgefangen wurden.

Die Vorfälle sind nichts Neues: Die ukrainische Völkerrechtsspezialistin Kateryna Busol schrieb bereits 2020 in einem Expertenkommentar für den britischen Thinktank Chatham House, dass eine von drei Frauen und einer von vier Männern in den seit 2014 umkämpften Gebieten in der Ostukraine konfliktbezogene sexuelle Gewalt erlebt oder miterlebt häten.

Geschlechtsspezische Gewalt ist in der Ukraine generell ein Problem. Laut einer Studie des Bevölkerungsfonds der Uno (UNFPA) aus dem Jahr 2019 gab eine von drei Frauen über fünfzehn Jahren an, sexuelle oder körperliche Gewalt erfahren zu haben. Der Krieg setzt sie nun einem noch höheren Risiko von sexueller Gewalt und Missbrauch aus.

Familien werden zerstört

Das Sammeln von Beweisen ist zentral, um die Täter strafrechtlich zu verfolgen und zu bestrafen. Sowohl die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft als auch das Team des Internationalen Strafgerichtshofs haben Untersuchungen lanciert.

Eindeutige Beweise dafür, dass Sexualverbrechen als Kriegstaktik begangen wurden, sind jedoch selten, und die Fälle sind schwer zu beweisen. Auch weil viele Betroffene aus Angst vor Ablehnung und Stigmatisierung sich weigern, über ihre Erlebnisse zu sprechen und Anzeige zu erstatten.

In vielen Ländern werden Frauen, Kinder und Männer, die sexuelle Gewalt erlebt haben, als entehrt und beschmutzt wahrgenommen und ausgegrenzt. Sie führt zu Entfremdung und hat das Potenzial, Familien, Gemeinschaften und Gesellschaften langfristig zu zerstören. Auch in der Ukraine werden Überlebende stark stigmatisiert, und Tabu und Scham im Zusammenhang mit dem Thema sind weitverbreitet.

Mangelnde Betreuung

Yosch, die ihren Nachnamen nicht in den Medien veröffentlichen möchte, leitet den ukrainischen Feminist Workshop, eine Organisation in Lwiw, die sich seit 2014 für die Rechte von Frauen einsetzt. Seit der russischen Invasion organisieren die Mitarbeitenden vor allem Unterkünfte, psychologische Betreuung und Kinderbetreuung für geflüchtete Frauen in der Westukraine.

Yosch bestätigt, dass Sexualität im Allgemeinen und sexuelle Gewalt in der Ukraine gesellschaftlich stark tabuisiert sind. Ein Problem sei vor allem, dass es an der notwendigen Infrastruktur fehle, um Überlebende sexueller Gewalt zu schützen.

Zum Beispiel gibt es nur wenige ausgebildete Fachleute, die psychologische Hilfe leisten können, und es fehlt an staatlichen Unterkünften für Überlebende. Auch die Mehrheit der ukrainischen Polizist:innen sei nicht im sensiblen Umgang mit Überlebenden sexueller Gewalt geschult, sagt Yosch. All diese Einschränkungen tragen dazu bei, dass Betroffene die Straftaten in vielen Fällen nicht melden.

Ein globales Problem

Eine neue Studie von UN Women, der Uno-Agentur zur Stärkung der Stellung der Frauen, sowie der NGO Care International bestätigt: Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt in der Ukraine haben einen eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung sowie zu Meldemechanismen. Zudem sei die geschlechtsspezifische Gewalt aufgrund des Krieges allgemein gestiegen.

UN Women sagt, dass in gewissen Krisengebieten über siebzig Prozent aller Frauen und Mädchen geschlechtsspezifische Gewalt erlebt hätten. Global gesehen suchen jedoch weniger als vierzig Prozent aller gewaltbetroffenen Frauen Hilfe. Die meisten wenden sich dabei an Freunde und Familie.

Nur zehn Prozent aller Betroffenen melden sich bei staatlichen Behörden. Dies auch, weil die meisten Strafverfahren langwierig sind und enorme emotionale, mentale, physische oder finanzielle Ressourcen erfordern und zu einer erneuten Traumatisierung der Betroffenen führen können. «Für zahlreiche Geflüchtete und Vertriebene sind Strafanzeigen oftmals nicht die erste Priorität. Sie wollen als Erstes überleben und sich ein neues Leben aufbauen», sagt Yosch.