Kriegsverbrechen in der Ukraine: Die Suche nach Beweisen ist komplex
Bomben auf Zivilist:innen und Spitäler, Vergewaltigungen, Massenhinrichtungen: In der Ukraine gibt es klare Hinweise auf Kriegsverbrechen. Hunderte von Ermittler:innen arbeiten daran, Völkerrechtsverstösse zu dokumentieren. Die fehlende Koordination ist jedoch ein Problem.
Vergangene Woche fiel vor einem Gericht in Kyjiw das erste Urteil in einem Kriegsverbrecherprozess. Der 21-jährige russische Soldat Wadim S. wurde wegen Erschiessung eines unbewaffneten 62-jährigen Zivilisten zu lebenslanger Haft verurteilt. Die ukrainische Staatsanwaltschaft bereitet zurzeit vierzig weitere Kriegsverbrecherprozesse vor und hat bereits über 11 000 mögliche Kriegsverbrechen registriert. Die Verantwortlichen sollen nicht ungestraft davonkommen.
Doch Rechenschaftspflicht erfordert Beweise. Deswegen sind Hunderte ukrainische und internationale Akteur:innen dabei, potenzielle Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Ukrainische Staatsanwält:innen und Polizisten, Journalistinnen und Akademiker:innen, Völkerrechtsexperten und Anwältinnen oder ein Team des Internationalen Strafgerichtshofs: Sie alle untersuchen und ermitteln gerade Seite an Seite. Auch Dutzende ukrainische Menschenrechtsorganisationen haben sich dieser herausfordernden Arbeit verschrieben.
Open-Source-Infos und Feldeinsätze
Tetjana Petschontschyk leitet das Menschenrechtszentrum Zmina in Kyjiw. Ihre NGO hat sich mit Beginn der russischen Invasion mit 26 anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen zur «Ukraine 5AM Coalition» zusammengeschlossen, um gemeinsam Kriegsverbrechen aufzudecken. Der Name spielt auf die Uhrzeit am 24. Februar an, zu der Russland die ersten Granaten auf die Ukraine abgefeuert haben soll.
Per Videoanruf erklärt Petschontschyk, wie sie bei Zmina mutmassliche Kriegsverbrechen dokumentieren: «Einerseits analysieren und verifizieren wir sogenannte Open-Source-Informationen, etwa Videos und Fotos in den sozialen Medien. Andererseits führen unsere Anwält:innen Interviews mit möglichen Opfern.» Drittens unternimmt die Organisation Feldeinsätze in den von der ukrainischen Armee befreiten Gebieten, um vor Ort mit Augenzeug:innen zu sprechen.
Mithilfe der verschiedenen Ansätze wird ein Gesamtbild rekonstruiert. Liegt gemäss dem Menschenrechtszentrum ein Kriegsverbrechen vor, werden die Indizien an verschiedene Stellen weitergeleitet, beispielsweise an die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft, den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag oder an die Untersuchungskommission des Uno-Menschenrechtsrats zur Ukraine. Bisher hat die Organisation bereits 700 Fälle von Kriegsverbrechen dokumentiert.
Um sicherzustellen, dass die Dokumentation der Verbrechen den Standards nationaler und internationaler Gerichte genügt, hält sich die NGO Zmina ans Berkeley-Protokoll – einen anerkannten Leitfaden für die Nutzung von Open-Source-Informationen zur Untersuchung von Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht. Um die Beweise zu sichern, kooperiert Zmina zudem mit der internationalen Organisation Mnemonic. Diese ist darauf spezialisiert, digitale Beweise so zu archivieren, dass sie vor internationalen Gerichten auch tatsächlich verwendet werden können. Die Organisation führt auch Archive zu Menschenrechtsverletzungen in Syrien, dem Jemen oder dem Sudan.
Die schiere Masse
Mithilfe Hunderter Freiwilliger dokumentiert auch das Center for Civil Liberties mögliche Kriegsverbrechen. Die Organisation fokussiert vor allem auf die Sammlung von Informationen vor Ort rund um Kyjiw. «Wir machen Fotos und Videos von zerstörten Kindergärten, Spitälern oder Wohnhäusern und nehmen Zeugenaussagen auf», erklärt Geschäftsführerin Olexandra Romantsowa. Der Organisation geht es dabei nicht darum, möglichst detailliert, sondern möglichst schnell vorzugehen. «Viele Menschen möchten ihre Erlebnisse vergessen. Sie reparieren bereits ihre Häuser, oder sie ziehen weg.» Damit würden wertvolle potenzielle Beweismittel und Zeug:innenaussagen verloren gehen.
Die Arbeit ist nicht ungefährlich. An vielen Orten liegen noch immer zahlreiche Minen oder nicht explodierte Sprengkörper, wie Romantsowa sagt. Die Menschenrechtsaktivist:innen müssen dann warten, bis das ukrainische Militär die Gebiete entmint hat. Die Sicherheit sei aber nicht die grösste Herausforderung, sagt Tetjana Petschontschyk vom Zentrum Zmina. Es ist die schiere Masse an mutmasslichen Kriegsverbrechen: «Es gibt Millionen potenzieller Opfer. Wir werden Jahre brauchen, um alles zu dokumentieren», sagt Petschontschyk. Wenn die Region Cherson oder die Hafenstadt Mariupol befreit würden, kämen vermutlich weitere Zehntausende hinzu: «Das Ausmass der Katastrophe ist tausendmal grösser als die Kapazität vor Ort.»
Überbefragung von Opfern
Der Krieg gegen die Ukraine ist womöglich der bestdokumentierte aktive Konflikt in der Geschichte. Die ukrainische Völkerrechtsspezialistin Kateryna Busol, die auf die Dokumentation von Kriegsverbrechen spezialisiert ist, findet den Fokus vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen, möglichst alles zu dokumentieren, schwierig. Gerade weil die Anzahl möglicher Schauplätze von Kriegsverbrechen so enorm sei, so Busol, «ist es effektiver, wenn sich die Organisationen auf bestimmte Regionen oder Gruppen von Überlebenden konzentrieren und dort solide Beweismittel suchen». Zudem sei es für eine Strafverfolgung zentral, dass Verbindungen zwischen den Verbrechen und spezifischen Täter:innen offengelegt würden. Dabei müsse man versuchen, möglichst weit die Hierarchiestufe hochzuklettern, «sodass nicht nur einfache Soldaten, die gestohlen oder vergewaltigt haben, strafrechtlich verfolgt werden können, sondern auch ihre Kommandanten, selbst jene in Moskau».
Beim derzeitigen unkoordinierten Vorgehen besteht auch die Gefahr, dass Opfer überbefragt werden. «Ein solches Vorgehen kann Betroffene retraumatisieren», erklärt Busol, was vor allem bei Überlebenden von sexueller Gewalt heikel sei. Aber auch für Menschen, die «nur» vor Luftangriffen geflüchtet seien, könne das ständige Sich-erinnern-Müssen belastend sein.
Tatsächlich sind viele ukrainische NGOs wie auch staatliche Ermittlungsbehörden nicht darin geschult, wie man Zeug:innenaussagen von Überlebenden sexueller Gewalt aufnimmt, wie man sie schützt und wie man die Befragungen so führt, dass die Aussagen vor Gericht auch Bestand haben. Eine mehrmalige Befragung durch verschiedene Akteur:innen beeinflusst zudem die Art und Weise, wie eine Person Beweise für mögliche Verbrechen darlegt. Denn sie würden sich irgendwann ihre eigene Erzählung einprägen, erklärt Busol. «Dadurch ist ihre Erinnerung nicht mehr frisch, sondern auswendig gelernt.» Solche wie auswendig gelernten Texte könnten in einem Gerichtsverfahren weniger überzeugend sein.
Mobile Justizeinheiten
Das Fehlen der Koordination und der Priorisierung der begangenen Verbrechen wird auch von Wayne Jordash, einem bekannten britischen Anwalt für internationales Strafrecht, kritisiert. Während eines Onlinepanels des Thinktanks Chatham House im April sagte er: «Bei der Dokumentation von Kriegsverbrechen muss immer auch abgewogen werden, was die Erfolgsaussichten in Bezug auf die Strafverfolgung sind.» Jordash befasst sich seit 2014 mit Kriegsverbrechen in der Ukraine und gehört einem von der ukrainischen Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa eingesetzten internationalen Beratungsgremium an. Dieses baut zurzeit sogenannte mobile Justizeinheiten auf mit dem Ziel, lokal Kapazitäten zu stärken, die diversen Akteur:innen zu koordinieren und die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden bei ihren Ermittlungen zu unterstützen.
Diese Einheiten werden aus internationalen und lokalen Expert:innen zusammengesetzt, von Staatsanwält:innen über Open-Source-Ermittlerinnen und Kommunikationsexperten bis hin zu Forensiker:innen. Diese Koordination ist umso wichtiger und dringender, als bis jetzt die Ukraine in erster Linie selbst zuständig ist, Kriegsverbrechen zu ermitteln und die Täter:innen strafrechtlich zu verfolgen.
Was sind Kriegsverbrechen?
Kriegsverbrechen sind schwerwiegende Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht während eines Konflikts, festgelegt in den Genfer Konventionen. Dazu gehören etwa Geiselnahmen, die ungerechtfertigte Bombardierung von Wohngebäuden oder Schulen, Folter, die unmenschliche Behandlung von Gefangenen oder sexuelle Gewalt als Kriegswaffe. Kriegsverbrechen können von Staaten, auf deren Territorium sie verübt wurden, sowie vom Internationalen Strafgerichtshof verfolgt werden. Aufgrund des Weltrechtsprinzips können auch Staaten Kriegsverbrechen verfolgen, wenn ein Opfer Anzeige erstattet und sich die Täter:innen im entsprechenden Land befinden.