Die Lernwerkstatt

Schon viel zu lange im Schatten

Zwar gilt laut der Uno-Menschenrechtskonvention das Recht auf Gleichheit, doch noch immer stossen Menschen mit Beeinträchtigung im Alltag auf viele Barrieren.

Foto des Café St. Jakob beim Münsterhof in Zürich
Viele der Menschen, die hier arbeiten, haben eine Beeinträchtigung: Das Café St. Jakob beim Zürcher Münsterhof. 

Beim Betreten des kleinen Kaffes am Münsterhof fällt sofort die helle und freundliche Stimmung auf: Eine junge Frau steht lächelnd hinter dem Tresen, der Duft von warmem Gebäck liegt in der Luft. Das Café ist schlicht eingerichtet und durch die grossen Glasscheiben strömt warmes Sonnenlicht herein. Es ist ein Ort zum Verweilen, ein Ort des Wohlbefindens für alle und jede:n. Was vielen nicht bewusst ist: Viele der Menschen, die hier arbeiten, haben eine Beeinträchtigung. Das Café bietet für sie eine der wenigen Arbeitsmöglichkeiten in einem öffentlichen Betrieb.

Die Geschichte von Menschen mit Beeinträchtigung ist geprägt von Ausgrenzung und Abwertung. Inzwischen hat sich die Einstellung der Gesellschaft ihnen gegenüber glücklicherweise verändert. Aber ist die Gesellschaft schon so fortschrittlich, dass Menschen mit Beeinträchtigungen wirklich akzeptiert und integriert sind?

Häufig werden Menschen mit Beeinträchtigungen immer noch diskriminiert und unterschätzt. Statt ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, wird ihnen ihre Selbständigkeit abgesprochen. Nicht nur im Berufsleben, sondern auch in Alltagssituationen – etwa beim Benutzen des ÖV – treffen Menschen mit Beeinträchtigung auf Schwierigkeiten. Im Rollstuhl kann man sich wegen Trottoirs, Baustellen und falsch parkierten E-Rollern nur schwer durch die Stadt bewegen. Die Stiftung Behinderten-Transporte Zürich (BTZ) stellt sich dem Problem.

Judith Saladin ist Fahrerin bei der BTZ. Ihr gefällt der Kontakt mit den unterschiedlichen Menschen: «Während der Fahrt unterhalte ich mich mit dem Klienten:innen, viele kenne ich schon länger», sagt sie. Die Stadt Zürich subventioniert die BTZ, die Fahrten müssten die Klient:innen meist nicht selbst bezahlen, so Saladin weiter. In den meisten Fällen werden die Kosten von einer Stiftung übernommen: Zum Beispiel von Promobil, die Stiftung verteilt jährlich BTZ-Gutscheine an ihre Mitglieder. «Die Gutscheine sind meistens Mitte Oktober aufgebraucht», sagt Fahrerin Saladin.

Stress und Personalmangel

Obwohl sie ihren Beruf sehr gern ausübe, gebe es auch Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Schwierig sei es, wenn sich Fahrgäste verspäten: «In grossen Wohnheimen ist es oft stressig, und wenn dann noch Personalmangel herrscht, kann es passieren, dass der Klient oder die Klientin noch nicht bereit ist, wenn ich dort ankomme.»

Saladin kritisiert, dass die Barrierefreiheit im Kanton Zürich noch unzureichend umgesetzt sei. Sie fordert, dass öffentliche Orte wie Restaurants Hindernisse für Menschen mit Beeinträchtigungen erkennen und beseitigen. Auf die Frage, was ihre Motivation für diesen Beruf war, antwortet sie: «Ich finde diese Arbeit sehr sinnvoll, und es ist mir wichtig, dass es diesen Service gibt.» Für sie ist es essenziell, dass alle Menschen in unserer Gesellschaft uneingeschränkt am öffentlichen Leben teilhaben und sich barrierefrei bewegen können.

Viele Menschen mit Beeinträchtigungen brauchen Unterstützung in ihrem Alltag. Ohne Unterstützung allein zu wohnen, kommt oft nicht infrage. Es gibt verschiedene Institutionen, die einen Wohnort für Menschen mit speziellen Bedürfnissen anbieten.

Eine Fachfrau Betreuung, die lieber anonym bleiben möchte und in einer dieser Institutionen arbeitet, gibt hilfsbereit Auskunft. An ihrer Arbeitsstelle hätten die meisten Klient:innen eine mehrfache Beeinträchtigung, erzählt sie. Sie begleite die Klient:innen durch ihren Alltag und biete ihnen Unterstützung an. «Der Kontakt mit Menschen bereitet mir Freude und ich habe viel von meinen Klient:innen gelernt», so die Betreuungsfachfrau. «Ich habe das Gefühl, dass sie Kleinigkeiten viel mehr schätzen. Davon können wir uns eine Scheibe abschneiden.»

Schwierige Situationen gehören zu ihrem Alltag als Betreuerin dazu, sagt sie. Die Probleme müssen alle auf individuelle Weise gelöst werden, da die Bedürfnisse der Klient:innen sehr verschieden seien. Sie schätzt ihren Beruf, aber es gebe auch Schattenseiten. Die Arbeitszeiten seien unregelmässig und die Bezahlung gering. «Mehr Wertschätzung wäre schön», sagt sie. Auch der Personalmangel sei ein grosses Problem. Er sei im Alltag deutlich zu spüren.

«Mehr Selbstbestimmung ist wichtig»

«Es gibt auch noch sehr viel Verbesserungspotential, was die Lebensqualität der Klient:innen angeht», sagt sie weiter. «Mehr Selbstbestimmung wäre wichtig.» Ihre Klient:innen können sich etwa nicht aussuchen, mit wem sie zusammenwohnen – «aber manchmal vertragen sie sich nicht». Gerade auch unter dem Personalmangel leiden viele Klient:innen: So finden deshalb etwa weniger Ausflüge statt. Dabei wäre der Kontakt zur Aussenwelt sehr wichtig und viele Wohninstitutionen liegen ausserhalb der Stadt.

«Menschen mit Beeinträchtigungen sind in unserer Gesellschaft immer noch nicht vollständig akzeptiert», sagt die Betreuungsfachfrau. «Es gibt immer noch viel zu viele Barrieren für körperlich eingeschränkte Menschen.» Insbesondere Ausflüge mit Klient:innen im Rollstuhl seien eine grosse Herausforderung.

Aber nicht nur physische Hürden sind ein Problem. «Komische Blicke und distanzierte Körperhaltungen gehören zum Alltag dazu. Wenn Klient:innen mit ihrem Verhalten nicht der Norm entsprechen, reagieren die Menschen darauf zum Teil entsetzt.» Das sei sehr deprimierend: Menschen mit einer Beeinträchtigung sollten einfach dazugehören, so die Fachfrau. Eine Normalisierung in den Schulen fände sie wichtig: Diskriminierende Sprüche und Wörter hört man in der Jugendsprache oft.

«Es gibt eine Mauer zwischen uns und den Anderen», sagt eine Betroffene, die ebenfalls anonym bleiben möchte. Inklusion sei noch an sehr wenigen Orten erreicht. Für die Zukunft wünscht sie sich, dass diese Mauer fällt.