Das indische Mitgiftsystem: Tod der Braut

Die marktwirtschaftliche Öffnung hat die Beziehungen zwischen Mann und Frau in Indien verschlimmert.

Seit 1961 ist die Praxis untersagt, doch niemand schert sich um das Verbot. Dass Brauteltern ihrer Tochter eine «dowry», eine ansehnliche Mitgift in die Ehe mitgeben, ist eine tief sitzende und offenbar kaum ausrottbare Tradition. Ohne Mitgift keine Ehe – das gilt überall im Land und in allen Kasten. Die Mitgift kann aus allem möglichen bestehen – aus Geld, aus Juwelen, aus Tieren, aus Kleidungsstücken, aus Möbeln, aus elektrischen oder elektronischen Geräten. Vor allem aber ist sie teuer. Die Familien müssen in der Regel ein Vermögen ausgeben und sich Jahre hinaus verschulden.

Wehe, die Mitgift reicht nicht aus oder missfällt der Familie des Bräutigams – dann beginnt für die Braut ein Spiessrutenlauf. Sie wird schikaniert, terrorisiert und manchmal auch getötet. «Brautverbrennen» nennt man das in Indien. In der Regel sind es Angehörige des Bräutigams, die die Braut mit Kerosin überschütten und anzünden; manchmal hält der Bräutigam selbst das Streichholz hin. Es kommt aber auch zu Selbstmorden. Für das Jahr 2000 hat die indische Regierung 6995 Mitgifttote gezählt, Menschenrechtsorganisationen gehen aber von bis zu 25 000 Toten aus. Denn viele Verbrennungen werden erst gar nicht gemeldet oder als Unfälle beim Hantieren mit Kerosinlampen registriert. Die Polizei ermittelt selten gründlich.

Shanta Kumari, Rechtsanwältin und aktives Mitglied in der National Federation of Indian Women, der nationalen Frauenföderation, beschäftigt sich seit langem mit dem Mitgiftunwesen. «Wenn wir hören, dass irgendwo Familien über die Mitgift verhandeln und die Familie des Bräutigams immer mehr verlangt, informieren wir die Polizei und die Strafverfolgungsbehörden. Natürlich gehen wir auch selber hin.» Und wenn das Schlimmste passiert ist? «Dann informieren wir die Medien und stellen der Brautfamilie juristische Beratung zur Verfügung. Wichtig ist, dass wir Öffentlichkeit herstellen – dann muss die Polizei herausfinden, was wirklich geschah.»

Shanta Kumari geht davon aus, dass die Zunahme der Mitgiftfälle mit den Marktreformen Anfang der neunziger Jahre zu tun hat. Seit der Liberalisierung 1991 haben ausländische Investitionen und die Einfuhr ausländischer Erzeugnisse stark zugenommen. So werden bei Mitgiftverhandlungen inzwischen nicht etwa nur Haushaltsgeräte verlangt – es muss schon ein besonderer Typ Kühlschrank sein, ein bestimmtes Fernsehgerät, eine ganz spezielle Waschmaschine. Ärmeren Familien, die einen Sohn zu vergeben haben, verspricht die Mitgift Aussicht auf ein besseres Leben und etwas Wohlstand. Aber es sind nicht die Armen, die monate- oder jahrelang um die Brautgabe feilschen. Zäh und ernsthaft verhandelt eher der Mittelstand, der das kleine Vermögen, das ihm da zugeschoben wird, für die Ausbildung des nächsten Sohnes einsetzt, der als Gebildeter eine höhere Tochter und noch mehr Gaben beanspruchen kann. Diese Gaben erlauben es der Familie wiederum, ihrerseits die eine oder andere Tochter zu verheiraten – sofern die Familie überhaupt Töchter hat.

Denn mittlerweile machen pränatale Diagnosen und Abtreibungskliniken in den Städten eine ziemlich exakte Geburtenplanung möglich. Auch früher schon hatten die Familien eingegriffen: Säuglinge, die den gängigen Wertvorstellungen nicht entsprachen, wurden oft entweder einfach umgebracht oder so lange vernachlässigt, mit Salz oder giftigen Pflanzen gefüttert, bis sie starben. Im modernen Teil Indiens sind die Methoden subtiler geworden: Dort kostet eine Diagnose samt Abtreibung um die 10000 Rupien (275 Franken), also etwa ein Drittel des durchschnittlichen Jahreseinkommens. Für Besserverdienende ist dies immer noch preiswerter als die 50000 oder 5 Millionen Rupien, die sie für eine Tochter später ausgeben müssten.

Dies erklärt, weshalb in wohlhabenden Regionen das numerische Geschlechtsverhältnis der Neugeborenen noch stärker auseinander klafft als im Landesdurchschnitt. Und der sieht schlimm genug aus. Nimmt man die Altersgruppe bis sechs Jahre als Massstab, kamen 1991 auf 1000 Jungs 945 Mädchen; 2001 betrug das Verhältnis laut jüngst veröffentlichen Zahlen 1000 zu 927. Während in den armen Regionen des Landes die Zahlen eher stabil blieben, sank die Relation in den reichen Industrieregionen von Gudscharat oder im vergleichsweise wohlhabenden Pundschab auf 883 respektive 798 Mädchen pro 1000 Jungs.

Shanta Kumari und ihre Freundinnen reisen regelmässig von Chennai (Madras) aufs Land. Sie haben herausgefunden, dass Strassentheater und Strassensketche bei der Dorfbevölkerung grossen Anklang finden. Sie beginnen ihre Vorführungen jeweils mit Kuhglockengeläut. Mit Kuhglocken kündigen auch heute noch die traditionellen Heiratsvermittler ihren Gang zur Brautfamilie an. In den Sketchen durchbrechen die Frauen das alte Ritual, sie witzeln über die Tradition und machen sich über die Beweggründe bei Mitgift-verhandlungen lustig. Das kommt in den Dörfern gut an. Die Mittel- und Oberschicht erreichen sie damit nicht.