Chancengleichheit: Quoten mit Sahne

Nr. 22 –

Die indische Regierung umwirbt die Angehörigen der unteren Kasten mit Studienplätzen - und trifft auf Widerstand.

Am 29. März dieses Jahres stoppte das Oberste Gericht Indiens ein Gesetz der Regierung, mehr Studienplätze für die niederen Kasten zu reservieren. Als Fernsehen und Radio die Meldung brachten, versammelte sich vor der Universität von Madras sofort eine kleine Gruppe Studierender. Nur zwei Worte hatte die junge Teilnehmerin Ponmudy auf ihr Pappschild geschrieben: «Soziale Gerechtigkeit!» Ponmudy studiert tamilische Literatur und möchte später Lehrerin werden. «Wir verlangen die Quote von 27 Prozent», sagt sie und sucht die treffenden englischen Ausdrücke, um ihr Anliegen zu erklären: «Wir wollen Gleichheit. Wenn wir Gleichheit in der Bildung haben, werden wir auch Gleichheit anderswo bekommen.»

Seit die neu gewählte Mitte-links-Regierung Indiens ankündigte, mehr Angehörigen der niederen Kasten ein Studium zu ermöglichen, wird in Indien um die sogenannten «Reservierungen» gekämpft - mit politischen Kampagnen, Demonstrationen und Hungerstreiks. StudentInnen von Eliteuniversitäten liefern sich Strassenschlachten mit der Polizei, manche drohten gar mit Selbstverbrennung. Zwei Tage nach dem Urteil des Verfassungsgerichts boten die Städte im indischen Bundesstaat Tamil Nadu ein ungewohntes Bild. Geschäfte blieben geschlossen, die sonst überfüllten Strassen leer. Die Landesregierung hatte zum eintägigen Proteststreik gegen die Entscheidung des Gerichtshofs aufgerufen.

Für Dilip Muralidaran ist das ein Akt des «Staatsterrorismus». Der junge Callcenter-Angestellte aus Chennai ist einer der OrganisatorInnen von Jugend für Gleichheit, einer Gruppe, die seit zwei Jahren gegen das Kastenquotensystem kämpft. Unter Gleichheit verstehen sie etwas ganz anderes als Ponmudy und ihre MitstreiterInnen, nämlich ein Auswahlsystem, bei der die Herkunft keine Rolle spielt und nur die Leistung entscheidet. Fast alle Mitglieder von Jugend für Gleichheit kommen aus Brahmanenfamilien, sind also Angehörige der höchsten Kaste, aber sie betonen, sie seien nicht gegen die sozialen AufsteigerInnen aus den unteren Kasten oder gegen staatliche Fördermassnahmen. «Aber dieses System sorgt dafür, dass wir nach wie vor eine Kastengesellschaft bleiben. Ich bekomme nicht das, was mir als Bürger und Steuerzahler zusteht!» Dilip erzählt, dass er trotz guter Noten nach seinem Schulabschluss keinen Studienplatz bekam und schliesslich ein Fernstudium absolvierte. «Heute sind wir diejenigen, die diskriminiert werden!»

Der Geschichtsprofessor C. Balakrishnan von der staatlichen Universität in Madras wiederum hält von den Aktionen von Jugend für Gleichheit und anderer QuotengegnerInnen gar nichts. «Sie kämpfen für ihre Privilegien», empört er sich und zieht eine Erfolgsbilanz der staatlichen Reservierungen. «Ich selbst bin das beste Beispiel: Ohne die Quoten hätte ich niemals eine Universität besuchen können. Meine Kinder haben heute solche Unterstützungsmassnahmen nicht mehr nötig.» Aber Balakrishnan gibt zu, dass die Quoten auch unerwünschte Ergebnisse zeitigen. «Natürlich kommt ein Studienplatz nicht den Ärmsten zugute. Wer die Hochschulreife erwirbt, gehört per definitionem zu den Privilegierten!» Dennoch seien Quoten unverzichtbar, weil ohne sie bei Bewerbungsgesprächen die kulturelle Nähe zwischen PrüferInnen und KandidatInnen den hohen Kasten zugute käme: «Die Elite rekrutiert ihren Nachwuchs sonst immer aus den eigenen Reihen.»

Die Hälfte der Plätze reserviert

Schon die britische Kolonialverwaltung legte einen Prozentsatz an Stellen in der öffentlichen Verwaltung und an Studienplätzen für benachteiligte Kasten fest. Die Verfassung der unabhängig gewordenen Nation verpflichtete dann die Regierung, das soziale Erbe des Kastenwesens auszugleichen. Das Mittel der Wahl waren Quoten für sozial benachteiligte «Gemeinschaften». An den Hochschulen, die von der Zentralregierung in Delhi finanziert werden - darunter auch die renommierten Indian Institutes of Technology und Indian Institutes of Management -, waren bisher 22,5 Prozent der Studienplätze für Angehörige der unteren Kasten (Scheduled Castes) und der Stammesgesellschaften (Scheduled Tribes) reserviert. Die sogenannten Other Backward Classes (OBC) der nicht registrierten Stammesgemeinschaften dagegen blieben bislang aussen vor. Die OBC standen im hinduistischen Gesellschaftssystem zwischen den Brahmanen und den ausgeschlossenen, kastenlosen Dalits. Heute sind sie nach wie vor in vielerlei Hinsicht benachteiligt, aber ihre Zahl und ihr politischer Einfluss sind stark gewachsen.

Ihnen versprach, mit Blick auf die anstehenden Wahlen, die Regierung unter Manmohan Singh 27 Prozent der verfügbaren Studienplätze. Damit wäre künftig etwa die Hälfte aller Plätze für sozial benachteiligte KandidatInnen reserviert. Obwohl das bei der Mehrheit der Bevölkerung populär ist und alle grossen Parteien sich dafür aussprechen, kam es zu heftigen Protesten von Studierenden. Auch indische Unternehmerverbände und Hochschuldirektoren fürchten um die Leistungsfähigkeit der Universitäten, sollte das Gesetz in Kraft treten.

Besonders umstritten ist die Frage, ob wohlhabende KandidatInnen von der Quote ausgeschlossen werden sollten. Längst nicht alle, die aus OBC-Familien stammen, sind arm; in manchen Regionen dominieren sie mittlerweile das wirtschaftliche und politische Leben. Das Oberste Gericht empfahl deshalb, dass Angehörige der sogenannten «Sahneschicht» keinen Anspruch auf die reservierten Studienplätze haben sollten. Zu dieser Schicht sollten beispielsweise Familien mit einem Jahreseinkommen über 100 000 Rupien (etwa 2700 Franken) zählen. Die Regierung konnte sich dazu allerdings nicht durchringen. Zu den «anderen benachteiligten Kasten» gehören demnach StudienbewerberInnen ausschliesslich aufgrund ihrer Abstammung.

Chaotisches Wachstum

Jedes Jahr machen etwa 400 000 junge InderInnen ihren Abschluss in Ingenieur- und Naturwissenschaften. Im Studienjahr 2006/07 werden nach einer «Schätzung» des Bildungsministeriums 12,8 Millionen Menschen an einer Hochschule studieren. (Folgt man dagegen den Hochrechnungen anhand der letzten Volkszählung aus dem Jahr 2001, sind es sogar 20,7 Millionen.) Noch wesentlich mehr könnten es sein, bekämen alle BewerberInnen auch einen Studienplatz, aber gerade die guten Universitäten sind völlig überlaufen. Ein Studium ist in Indien heute unabdingbar, um den sozialen Status wenigstens zu halten. Ohne Studium ist in der Regel nicht einmal eine Stelle in einem jener Callcenter zu haben, die durch Verlagerungen aus Europa und den USA entstanden sind.

Insofern interessiert die Hochschulpolitik vor allem die neue alte Mittelschicht - diejenigen, die in der Regel im öffentlichen Sektor beschäftigt und wohlhabend genug waren, ihren Kindern ein Studium zu bezahlen. Die Grundschule dagegen findet kaum öffentliche Aufmerksamkeit, denn wer es sich leisten kann, schickt sein Kind auf eine Privatschule. Die Qualität der staatlichen Schulen ist schlecht, geprägt von finanzieller Vernachlässigung und geringer Motivation der erbärmlich bezahlten LehrerInnen. Immer noch kann ein Drittel der InderInnen weder lesen noch schreiben.

Vor zwei Jahren setzte die Regierung die National Knowledge Commission unter dem Vorsitz des bekannten Unternehmers Sam Pitroda ein, die Vorschläge für die Reform des Bildungswesens erarbeiten sollte. Nun hat die Kommission ihre Ergebnisse veröffentlicht. Auch sie konzentriert sich auf die tertiäre Bildung und geht davon aus, dass die Zahl der Universitäten in den nächsten acht Jahren von 367 auf 1500 steigen muss: Die staatlichen Universitäten können die weiterwachsende Nachfrage nicht bedienen. Deshalb sind in den letzten Jahren unzählige private Hochschulen entstanden, die oft hohe Gebühren für zweifelhafte Leistungen verlangen. Von den 17 000 indischen Colleges werden nur 4300 öffentlich verwaltet.

Widersprüchliche Ergebnisse

Schon jetzt geben indische Familien, gemessen am Familienbudget, wesentlich mehr für die Ausbildung ihrer Kinder aus als europäische. Wer es sich leisten kann, studiert im Ausland, am besten in Grossbritannien. Dort stellen junge InderInnen die grösste Gruppe unter den ausländischen Studierenden. Die Konkurrenz um einen Platz an einer angesehenen Universität ist in den Mittelschichten, die sich ein Auslandsstudium nicht leisten können, härter geworden und wird auch mit Kastenvorurteilen ausgefochten, die längst überwunden schienen. Mittlerweile findet ein schwunghafter Handel mit gefälschten Bescheinigungen über die Kastenzugehörigkeit statt, mit denen BrahmanInnen einen reservierten Studienplatz zu ergattern versuchen.

Ob Studienplätze oder Stellen im öffentlichen Sektor, die Sozialpolitik mittels Quoten zeigt widersprüchliche Ergebnisse. Nach fünfzig Jahren positiver Diskriminierung ist die Bedeutung der Kastenherkunft heute grösser denn je, schliesslich verschafft sie Zugang zu knappen Ressourcen. Die politische Landschaft hat sich dementsprechend in den vergangenen Jahren fragmentiert, und viele Parteien stützen sich heute ausdrücklich auf bestimmte Gemeinschaften. Patronagesysteme und Klientelismus reichen von den Eliten bis in die Slums. Auch bei der Frage der Quoten an den Universitäten verlaufen die Fronten strikt entlang der Kastenzugehörigkeit. Für die höhere Quote sind die unteren Kasten, während die Gegner BrahmanInnen sind. Alternative Konzepte, wie Studierende aus den unteren Schichten gefördert werden können, kommen in der Debatte dagegen nicht vor.

Nach der Sommerpause will die Regierung einen neuen Anlauf unternehmen, um das Gesetz zu retten. Gelingt es ihr nicht, wäre das in den Augen der Öffentlichkeit eine harte Niederlage der ohnehin angeschlagenen Regierung. Sie will den QuotengegnerInnen entgegenkommen und verspricht, die Zahl der Studienplätze zu erhöhen, damit trotz der höheren Quote die Zahl der Plätze in der allgemeinen Kategorie nicht sinkt. Die AktivistInnen von Jugend für Gleichheit halten das für Augenwischerei und bereiten sich auf einen heissen Herbst vor.