Der Alltag im Ausnahmezustand

Tag für Tag sitzt die alte Frau am Donau-Ufer und bietet ihre Postkarten den wenigen an, die einen Gruss ins Ausland senden möchten. Keinen sonnigen Feriengruss wohl bemerkt, sondern einen Protestgruss, denn die Karten der alten Frau zeigen Bilder des Krieges. Zerstörte Brücken und verbrannte Gebäude sind die neuen Sehenswürdigkeiten Serbiens.
Den AusländerInnen, die eine Postkarte erstehen, schildert die Verkäuferin, die viel Zeit hat und froh darüber ist, ihre Erlebnisse jemandem erzählen zu können, ihre Geschichte. Nur gerade die ersten drei Nächte, beteuert sie, sei sie in den Luftschutzkeller gegangen. Auf einem weissen Plastikstuhl, wie sie normalerweise auf den Balkonen stehen, habe sie gesessen und bei mieser Beleuchtung mit den anderen Schutzsuchenden geflüstert. Feucht sei es gewesen, dunkel und schmutzig. An einem solchen Ort, sagt sie, habe sie nicht sterben wollen. Deshalb sei sie, wie die meisten ihrer Freunde und Bekannten, vom vierten Tag an in ihrer Wohnung geblieben und habe die Nächte durchtelefoniert, kaum dass das erste Flugzeug über der Stadt zu hören und die erste Bombe gefallen war. Jetzt sei glücklicherweise alles vorbei. Einzig wenn es donnere, zucke sie noch zusammen.
Nur langsam kehrt der Alltag in Novi Sad, einer der am stärksten bombardierten Städte Jugoslawiens, zurück. Flexibilität und Improvisation sind überall gefragt. Seit Benzin Mangelware ist und keine Brücken mehr über die Donau führen, nimmt jeder Weg, ob zur Schule, zur Arbeit oder zum Markt, unangemessen viel Zeit in Anspruch. Allein die Überquerung des Flusses, der das Zentrum vom alten Stadtteil Petrovaradin trennt, dauert mehr als eine Stunde, da die flossartige Fähre nur sehr vorsichtig an- und ablegen kann, FussgängerInnen und FahrradfahrerInnen nur sehr langsam ein- und aussteigen können. Noch sind die Menschen geduldig und scherzen mit dem Fährmann, der so seine Schwierigkeiten mit der starken Strömung der Donau hat. «Na, Alter, fliesst das Wasser zu schnell?», rufen sie ihm dann zu. Und er, schon leicht gereizt ob des allgemeinen Lachens, brüllt zurück: «Wenns euch nicht passt, schwimmt doch! Oder bringt mich um. Mir doch egal.» Wie wird es wohl im Winter sein, wenn keine Sonne die Wartenden wärmt und Eisschollen das Ein- und Aussteigen erschweren? Daran möchte jetzt noch niemand denken.
Die Furcht vor einem Winter ohne Strom, ohne Heizung und ohne Benzin ist allgegenwärtig. Kleine Öfen werden installiert, vorhandene geputzt und wieder instand gesetzt. Ein Vorrat an Holz und Kohle wird angelegt. Und auch die Vorratskammern werden aufgefüllt – so gut es geht. Trockennahrung wird gespeichert, frische Früchte werden zu Konfitüre und Kompott verarbeitet. Das Angebot an Früchten und Gemüse auf dem Markt ist momentan sehr reichhaltig. Und auf dem Schwarzmarkt sind auch Nescafé, Zigaretten, Zahnpasta, Waschmittel und sogar Benzin zu finden. Allerdings weiss man erst nach den ersten Geräuschen des Motors, ob der aus Rumänien und Bulgarien importierte Treibstoff nicht zusätzlich mit Wasser gestreckt wurde.

Obwohl es – ausser vielleicht an Zucker und Speiseöl – vorerst an nichts zu mangeln scheint, kann kaum jemand davon profitieren. Unverhältnismässig teuer ist das Angebot. Ein Kilo Pfirsiche kostet eine Mark, eine Dose Nescafé rund 1 Mark 40 – die Interessenten am Stand geben an, 80 bis höchstens 120 Mark im Monat zur Verfügung zu haben.
Wer trotz allem etwas sparen kann, wechselt seine Dinare in Devisen – nur so ist der laufenden Inflation zu entgehen. Gleich hinter dem Markt streunen jene Männer herum, die einen besseren Wechselkurs als den regulären anbieten. Aufdringlich flüstern sie «Marke, Marke, Marke» oder zischen spuckend «tzz, tzz, tzz», um im selben Moment erkannt zu werden und doch im Grunde unerkannt zu bleiben. «Wir haben kein Rechtssystem hier», klagt ein Elektroingenieur, der soeben sein ausländisches Geld in Dinare gewechselt hat. Ohne Hilfe von im Ausland lebenden Familienmitgliedern könnte kaum jemand in Serbien überleben. Der Ingenieur schimpft über Slobodan Milosevic. Doch was ist die Alternative? Zoran Djindjic, sagt er, könne das Volk nicht überzeugen. Vuk Draskovic gesteht er Charisma ein, doch ebenso Wankelmütigkeit und wenig politisches Profil. Und über den serbischen Thronanwärter, der in London lebt und erst seit kurzem ein paar Brocken Serbisch spricht, lacht er nur. In seiner Hand hält er einen Laufzettel der Demokratischen Partei. «Dosta je bilo! – Jetzt ist genug!», steht da geschrieben. Mehr nicht.
Politisiert wird heftig, in den Cafés und auf der Strasse. Immer wieder geht es um Erklärungen, warum und wieso was und was nicht bombardiert wurde. Gerüchte brodeln. Der Firmensitz der Ölraffinerie von Novi Sad, die mehrmals von der Nato bombardiert worden ist, soll von einem Angriff verschont geblieben sein, weil das relativ neue gelbe Backsteingebäude mit den blauen Fensterrahmen und den amerikanischen Ausmassen von Lloyds versichert sei. Auch die Telekommunikation wurde im Gegensatz zu Fernsehtürmen und Mediensitzen nicht angegriffen. War dafür der Aktienanteil zweier Natomitglieder, Griechenland und Italien, ausschlaggebend?
«Es wird wie zu Titos Zeiten sein», prophezeit eine Ärztin. «Milosevic wird erst gehen, wenn er stirbt.» Müde sieht sie aus. 24 Stunden Dienst hat sie gerade hinter sich. Operationen führt sie seit dem Bombardement schon mal bei Kerzenlicht aus oder unter massivem Zeitdruck, denn der Generator spendet nur gerade für eine Stunde genügend Strom. Bei Frühgeburten – sie arbeitet auf der Gynäkologie – hat sie einen einzigen Brutkasten zur Verfügung, weil nur dieser an einen zweiten Generator angeschlossen ist. Ihre Patientinnen, die im fünften, sechsten, siebten Monat schwanger sind, fürchteten, dass die Bomben die Umwelt verseucht hätten und ihre Kinder jetzt Schäden davontrügen. Viele wüssten nicht mehr, was sie noch essen und trinken sollten. Die Leute von Pancevo waren einmal davon überzeugt, die saftigsten und süssesten Pfirsiche ganz Jugoslawiens anzubauen. Seit die Nato dort im April die Ölraffinerie in die Luft gesprengt hat, will niemand mehr Pfirsiche aus Pancevo essen. «Ob es schädlich ist oder nicht – was weiss schon ich», sagt die Gynäkologin. «Das wird sich erst mit der Zeit herausstellen. Nur ist es dann vielleicht zu spät.»

Auch in der Millionenstadt Belgrad bereiten sich die Menschen auf einen harten Winter vor. In den Schulen und Universitäten wird nachgeholt, was wegen des Krieges ausgefallen ist, und vorgearbeitet für die Zeit, in der der Unterricht aller Wahrscheinlichkeit nach ausfallen wird. Schon in den letzten Jahren fielen Stunden und Vorlesungen aus, weil die Klassenzimmer nicht regelmässig geheizt werden konnten. Das Museum für Moderne Kunst hat seinen Betrieb vorerst ganz einstellen müssen. Das Gebäude liegt wenige hundert Meter vom Sitz der Sozialistischen Partei Milosevics entfernt, und bei dessen Bombardierung am 21. April wurden auch die grossen Glasflächen des Museums durch die Erschütterung zerstört. Jetzt dringen Wind und Regen in die Säle ein, am Boden liegen tote Fliegen, an den Wänden klebt Vogeldreck. Glücklicherweise konnten die Bilder gerettet werden. Sie stapeln sich im Depot im Keller, und die Museumsleute warten auf eine Gelegenheit, sie wieder der Öffentlichkeit zu präsentieren. Rund 200 000 Mark bräuchte es, meint eine Kuratorin, um die Bombenschäden zu beheben. Eine derartige Summe sei hier und jetzt für ein Museum nicht aufzutreiben. Und vom Ausland, sagt sie, erwarte sie nichts. Schon vor dem Krieg habe sich kaum ein ausländisches Museum für einen Austausch interessiert. Die Ein- oder Ausfuhr von Bildern sei unter den Bedingungen der internationalen Blockade Jugoslawiens sehr erschwert, ja gar verhindert worden, und die Versicherungen seien unbezahlbar hoch gewesen, so dass kaum Lust auf weitere Zusammenarbeit bestanden habe.
Jetzt organisiert sie, den Umständen entsprechend, kleinere, mehr oder weniger improvisierte Ausstellungen in der Innenstadt. Die Kunstszene, gespalten in eine offizielle und eine alternative, ist fleissig tätig, ihre Ausstellungen sind gut besucht. Die Menschen scheinen nach Normalität und Unterhaltung zu gieren. Als der Violinist Stefan Milenkovic in Belgrad und Novi Sad Konzerte gab, drängten sich die Leute in den Saal, zwängten sich in die Bänke oder standen, jede noch so minimale Lücke ausnutzend, in den Ecken, in den Gängen und auf den Emporen. Der Applaus war tosend. Man war dankbar, für kurze Zeit aus der Wirklichkeit entführt worden zu sein.