Das Mittelalter wird giftig

Die letzten Reste aus ihren Tiefkühltruhen haben die BewohnerInnen Serbiens vergangene Woche feierlich aufgegessen - oder gleich weggeschmissen. Denn die erstmals in einem Krieg eingesetzten Grafit-Bomben legten die Stromversorgung des Landes tagelang lahm. Nur wenige Male, jeweils für ein Paar Stunden, konnten die privaten Haushalte bedient werden, das reichte nicht, um Vorräte zu retten. So tischten die Hausfrauen alles auf, was noch nicht ganz verdorben war, in der Gewissheit, dass sie so bald nicht mehr an neue, einigermassen unverseuchte Nahrungmittel kommen werden.
Sorgen über ihre künftige Ernährung müssen sich auch die Adria-Fischer am anderen Ende des ehemaligen Jugoslawien machen. Nach Angaben der kroatischen Zeitung «Vecernji list» entledigen sich Nato-Flugzeuge ihrer überschüssigen Bomben einfach über dem Meer. Ein Nato-Funktionär bestätigte dem Blatt die seltsame Entsorgungspraxis, wollte dabei aber weder etwas über die Zahl noch über die Zerstörungskraft der abgeworfenen Sprengkörper sagen. Sicher ist damit nur, dass auch hier an der kroatischen Küste die Erhaltung der Nahrungskette ungemein gefährdet ist.
Die «humanitäre Intervention» der Nato hat in vielerlei Hinsicht verheerende Folgen. Die politischen sind schon jetzt offensichtlich - die Kosovo-AlbanerInnen sind Opfer einer auch für balkanische Verhältisse riesigen Katastrophe; Jugoslawiens Nachbarstaaten sind destabilisiert; Präsident Slobodan Milosevic sitzt dagegen ziemlich fest im Sattel und schaut zu, wie sein Land «ins Mittelalter zurückgebombt» wird.
Andere Kriegsfolgen sind in ihrem ganzen Ausmass noch lange nicht absehbar. An erster Stelle gilt das für die ökologischen Schäden, über die bezeichnenderweise weder die Nato-Staaten noch die jugoslawische Führungsriege gerne sprechen. Die Ersteren, weil damit das eigene Bild des guten, nur im Interesse der Menschen handelnden Geistes zerstört wird. Die Letzteren, weil sie befürchten müssen, doch noch Ärger mit der eigenen Bevölkerung zu bekommen, der bisher eingeredet wird, alle Kriegszerstörungen liessen sich durch fleissige Arbeit relativ schnell wieder beheben.
Serbische Nichtregierungsorganisationen haben bereits zu Beginn der Bombardierungen davor gewarnt, dass die Grundlage menschlicher Existenz gefährdet sei - nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die ökologische. In einem gemeinsamen Appell protestierte deshalb ein Dutzend NGOs gegen die Politik der Nato und ihre zerstörerischen Folgen für den gesamten südlichen Balkan - vergeblich versteht sich.
Das strategische Ziel der Allianz, so hiess es aus Brüssel, sei die Zerschlagung der kriegswichtigen Infrastruktur - der Brücken, Bahnverbindungen, Erdölraffinerien, Treibstofftanks, Chemiefabriken, Auto- und Maschinenfabriken. Was ist aber strategisch wichtig an einer Tabakfabrik oder an Anlagen zur Herstellung von Waschpulver? Zigaretten sind seit Kriegsbeginn knapp und nach der Zerstörung von Chemiefabriken in Leskovac, Krusevac, Lucani, Pancevo und Baric wird es auch immer schwerer, in Belgrad Waschmittel aufzutreiben, zumal auch Importgeschäfte in dieser Zeit nicht gerade florieren.
In einigen der chemischen Fabriken, wollten britische Presseberichte wissen, sei nicht nur Waschpulver, sondern auch Giftgas angerührt worden, darunter die Nervengase Sarin und Senfgas. Die jugoslawische Armee hat stets bestritten, dass sie über chemische Waffen verfügt, und - ein starkes Indiz - nach bisheriger Kenntnis wurden von ihr in den bisherigen jugoslawischen Kriegen auch keine C-Waffen eingesetzt. Auszuschliessen ist deren Produktion, die so messerscharf in das verbreitete Serbien-Bild passen würde, damit allerdings nicht.
Die zwei grössten Raffinerien - in Pancevo bei Belgrad und bei der Vojvodina-Hauptstadt Novi Sad - waren in den letzten Wochen wiederholt Ziel der Bomber. Aus den brennenden Anlagen stiegen dicke, schwarze Wolken auf, die tagelang am Himmel hingen. Nach jugoslawischen Angaben verfügten die beiden Anlagen über eine jährliche Verarbeitungskapazität von 5,5 beziehungsweise von 2,5 Millionen Tonnen Rohöl. Genaue Zahlen über die Verluste liegen nicht vor, aber es ist davon auszugehen, dass mehrere hunderttausend Tonnen Rohöl und Benzin durch die Bomben in Brand gesteckt wurden. All das kommt als Russ wieder runter, verdreckt die Luft, das Wasser, den Boden. Öl und Ölderivate enthalten mehr als hundert hochgiftige Komponenten, schon ein Liter Öl oder Ölderivat kann fast eine Million Liter Wasser unbenutzbar machen. Die serbische Umweltbehörde, aber auch unabhängige Stellen berichteten von einem mehr als 15 Kilometer langen Ölteppich, der die Donau hinuntertreibt. Auf seinem Weg zum Schwarzen Meer passiert er unter anderem Kühlanlagen von Stromkraftwerken, darunter auch AKWs.
Die Bomben fallen in einer Zeit, in der normalerweise die Felder für Weizen, Roggen, Sonnenblumen, Zuckerrüben, Soja und verschiedene Gemüsesorten bestellt werden sollten. Die kleine oppositionelle Grüne Partei Serbiens hat ausgerechnet, dass in diesem Jahr 2,5 Millionen Hektar der Landwirtschaftsfläche nicht rechtzeitig bepflanzt werden konnten. Die absehbaren Ernteausfälle werden sich noch vergrössern, aufgrund des westlichen Ölembargos, das auch Landwirtschaftsmaschinen zum Stillstand bringt, und weil Bewässerungssysteme bei dem vergifteten Wasser nicht genutzt werden können. Schliesslich ist nicht allein die Donau verdreckt, viele serbische Flüsse entspringen im massiv verbombten Kosovo. Dessen Bevölkerung soll nach den Vorstellungen der Nato möglichst bald zurückkehren - in von den serbischen Kräften niedergebrannte Dörfer, auf vom Bombenkrieg verseuchtes Land.
Der Grossteil der Industrieanlagen Serbiens liegt nach sieben Wochen Bombenkrieg in Trümmern. Welche ökologischen Gesamtfolgen die Zerstörung der serbischen Schwerindustrie hat, wird sich erst mittel- und langfristig herausstellen. Absehbar sind aber bereits die wirtschaftlichen Folgen. Allein durch die Zerstörung einer einzigen Fabrik - der Waffen- und Autofabrik Zastava in Kragujevac - verloren 100 000 Beschäftigte Arbeit und Lohn. Nach offiziellen Angaben stehen aufgrund der von der Nato verursachten Zerstörungen insgesamt bereits eine halbe Million ArbeiterInnen auf der Strasse. Viele von ihnen waren faktisch schon beschäftigungslos, eine Konsequenz des geschrumpften jugoslawischen Marktes und der seit langem auf dem Land lastenden Wirtschaftssanktionen. Doch jetzt liegen auch noch die bisher funktionierenden Reste der Industrie in Schutt und Asche. Gepaart mit den ökologischen Schäden, die die Gefahr einer Hungersnot heraufbeschwören, erscheint die Zukunft düster. Und Armut geht selten mit geistigem und politischem Fortschritt einher.
Ein spezielles Kapital der ökologischen Zerstörungen wird von der Uranmunition geschrieben, die von der westlichen Allianz seit den Tagen des Golfkrieges gegen gepanzerte Fahrzeuge und befestigte Stellungen eingesetzt wird. Und seit den Tagen des Golfkrieges wird mit Wortklauberei deren Gefahr verniedlicht. Ist die mit abgereichertem Uran gehärtete Munition radioaktiv strahlend oder setzt sie «lediglich» hochtoxische Staubwolken frei? Die «Ärzte gegen den Atomkrieg» (IPPNW) führen jedenfalls aufgrund von Forschungen im Nachkriegs-Irak rasant angestiegene Knochen- und Nierenerkrankungen, Leukämie und Missbildungen bei Neugeborenen auf deren Einsatz zurück. Die Nato behauptet, bislang diese Munition im Kosovo noch nicht eingesetzt zu haben, dem widersprechen jedoch zahlreiche Pressemeldungen, etwa über den Einsatz der US-amerikanischen A-10-Bomber, die normalerweise entsprechend ausgerüstet sind.
Abgesehen vom IPPNW hat sich keine der grossen westlichen ökologischen Organisationen bislang speziell dieses Themas angenommen. Es ist wohl davon auszugehen, dass sich auch bei ihnen eine Kluft zwischen GegnerInnen und BefürworterInnen der Nato-Intervention aufgetan hat und deswegen Schweigen ratsam erscheint.