Schafft die serbische Opposition das Rennen?

Aus den Zeiten der türkischen Herrschaft blieb Belgrad eine mächtige Festung namens Kalemegdan, ein dominierendes Wahrzeichen der Stadt. Die grüne, kühle Festung ist vor allem bei Rentnern beliebt, die hier ihren Lebensherbst verbringen. Sie gehen spazieren, führen Hunde aus oder spielen Schach und Karten auf den heruntergekommenen Bänken.
Ernsthaft ist wohl nicht vorstellbar, dass sich Jugoslawiens starker Mann Slobodan Milosevic am 25. September, dem Tag nach den Präsidentschaftswahlen, zu den Rentnern gesellt und im Schatten der alten Bäume seinen Lebensabend verbringt. Denn die bevorstehenden Wahlen sind für ihn keine Frage von Sieg oder Niederlage, sondern des physischen Überlebens.
Milosevic weiss das allzu gut. Deswegen sorgte er vor. Die jüngsten überfallartig durchgepeitschten Verfassungsänderungen und die Revision der Wahlgesetze sollen ihm die Macht sichern. Angesichts dessen müsste die Opposition schon in grosser Geschlossenheit auftreten, um ihm das Handwerk zu legen.
Doch die GegnerInnen des Diktators haben sich gespalten. Auf der einen Seite steht die Serbische Erneuerungsbewegung (SPO) von Vuk Draskovic. Die als monarchistische Kraft entstandene Partei ist in vielen Stadtparlamenten vertreten und war jahrelang die stärkste Oppositionspartei. Allerdings ist auch ihr Ansehen schwer beschädigt. Unzählige Gerüchte sprechen von Verwicklungen der höchsten SPO-Funktionäre in Korruptionsgeschichten. Die Zusammenarbeit mit dem Regime während des Nato-Angriffs auf Serbien «im höheren Interesse der Nation» ging vielen SympathisantInnen zu weit.
Zum Präsidentschaftskandidaten ernannte die SPO den farblosen Bürgermeister von Belgrad, Vojislav Mihailovic. Der Anwalt verdankt seine Bekanntheit im Wesentlichen seiner Abstammung: Sein Grossvater Draza Mihailovic war Tschetnik-Führer im Zweiten Weltkrieg. Über eine eigene politische Autorität verfügt er kaum; was er heute ist, wurde er dank Draskovic.
Auf der anderen Seite des Oppositionsspektrums stehen fünfzehn sehr verschiedene Parteien – von linksliberalen bis bürgerlich-demokratischen. Auch die Vorsitzenden dieser Parteien unterscheiden sich gewaltig. Darunter sind frühere hochrangige Angehörige des Regimes, wie Exgeneralstabschef Momcilo Perisic, aber auch ein Goran Svilanovic, der Chef der Bürgerlichen Allianz Serbiens, der in den letzten zehn Jahren konsequent gegen Nationalismus und Krieg eingetreten ist.
Dieser Teil der Opposition bestimmte Vojislav Kostunica zum gemeinsamen Kandidaten für die Präsidentschaft. Der 56-jährige Jurist und frühere Universitätsdozent hat bisher nie mit der Macht geliebäugelt. Zu Zeiten des sozialistischen Jugoslawiens war er für seinen Antikommunismus bekannt. Nach dem Zusammenbruch präsentierte er sich als ein für serbische Verhältnisse gemässigter Nationalist, der aber als konsequenter Legalist nie ein gutes Wort über die Politik von Milosevic verloren hat.
Kostunica äusserte sich stets sehr scharf über die westliche Politik gegenüber Serbien. Kontakte mit VertreterInnen der Nato-Staaten, die Jugoslawien im letzten Jahr bombardierten, vermied er. Die Intervention bezeichnete er als Bruch des internationalen Rechts, der für die Demokratie Serbiens genauso schädlich sei wie die Politik des Regimes. In den Interviews nach seiner Kandidatur betonte er zwar, dass er nicht vorhabe, vor der US-Botschaft «Männchen zu machen». Zugleich kündigte er aber eine Zusammenarbeit mit dem Westen an. Schliesslich müssten die «zerbombten Brücken in Serbien auch repariert werden».
Kann Kostunica, der vielen als zu intellektuell und kaum volksnah gilt, Milosevic besiegen? Seriöse Meinungsumfragen geben ihm bis zu 43 Prozent gegenüber lediglich 27 Prozent für Milosevic. Die Tatsache, dass Draskovic seinen eigenen Kandidaten ernannt hat, kann ihm schaden, doch im zweiten Wahlgang wird es wohl zu einer Art Volksabstimmung zwischen Milosevic und Kostunica kommen.
Bei nur halbwegs freien Wahlen könnte Kostunica also trotz Draskovics Demontageversuchen gewinnen. Die Frage ist deshalb, wie weit das Regime, das eine Niederlage nicht einfach hinnehmen kann, mit seinen Manipulationen gehen wird. In jedem Fall kommt ihm da der Boykott der Präsidentschaftswahlen im Bundesstaat Montenegro gelegen. Trotz des massiven Drucks westlicher Staaten blieb der montenegrinische Präsident Milo Djukanovic bislang hart: Eine Teilnahme an den nach den neuen Gesetzen ausgeschriebenen Wahlen sei für Montenegro nicht akzeptabel. «Die Teilnahme an den Wahlen ist immer noch besser, als sich kampflos zu ergeben und die Wähler total zu entmutigen. Ein Boykott der Wahlen würde die Gefahr eines Bürgerkrieges heraufbeschwören», sagte Kostunica in einem Zeitungsgespräch letzte Woche.
Den Bürgerkrieg könnte allerdings schon ein gutes Ergebnis für Kostunica auslösen. Möglich ist sowohl ein Konflikt zwischen dem Regime in Serbien und dem in Montenegro als auch einer innerhalb Serbiens. Dessen ist sich Kostunica bewusst. Er weiss aber auch, dass jetzt der allerletzte Moment gekommen ist, zumindest den Versuch zu unternehmen, das Regime Milosevic in Wahlen zu stürzen.
Kostunica ist kein «Volksheld» wie Lech Walesa und kein «melancholischer Intellektueller» wie Vaclav Havel. Zumindest Letzterem war als Konsequenz der grossen Wende in Ost- und Mitteleuropa vor einem Jahrzehnt die Macht wie eine reife Frucht in den Schoss gefallen. Kostunicas Aufgabe ist zweifellos wesentlich schwieriger. Umso mehr Unterstützung verdiente er; auch die des Westens, dessen Balkanexperten sich in ihrer Weitsicht bisher damit zufrieden geben, dass nach der Benennung zweier Oppositionskandidaten ein Sieg Milosevics so gut wie sicher sei.
Manchmal entsteht schon der Eindruck, ein Bösewicht vom Dienst in Belgrad sei doch genehmer als ein gewählter Demokrat, der dann die jugoslawische Souveränität über den Kosovo zurückverlangt.