Deutsche Filme: Utopisches Realitätsprinzip

In den Schweizer Kinos sind dieser Tage zwei bemerkenswerte deutsche Produktionen zu sehen: Oskar Roehlers «Agnes und seine Brüder» sowie Hans Weingartners «Die fetten Jahre sind vorbei». Ein Blick auf die Filme und ihre Produktionsbedingungen.

Es war eine kleine Sensation im Mai dieses Jahres: Endlich, nach sieben Jahren, lief wieder eine deutsche Produktion im Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes. Nach Wim Wenders, der 1997 mit «Am Ende der Gewalt» vertreten war, hatte man nun ganz bewusst Hans Weingartner, Jahrgang 1970, eingeladen – man wollte nach so langer Abwesenheit des deutschen Films nicht wieder bei Regisseuren anknüpfen, die schon früher dabei gewesen waren. «Die fetten Jahre sind vorbei» hiess die Produktion, der Titel liess die deutsche Presse nicht nur jubeln, er lud gleichzeitig zu reichlich pessimistischen Wortspielen ein: Die fetten Jahre des deutschen Kinos seien schon längst vorüber, hiess es.

Tatsächlich aber hat sich das deutsche Kino über die letzten Jahre gemausert: Zahlreiche Komödien (allen voran «Der Schuh des Manitu» von Bully Herbig) schrieben an der Kinokasse schwarze Zahlen, eine Reihe von Mauerfallfilmen (wie «Sonnenallee» oder «Goodbye Lenin») liessen sich ins Ausland verkaufen. Gleichzeitig kam es bei den Börsengängen einiger renommierter Filmproduktionsfirmen und -verleiher zu massiven Fehlspekulationen. «Da ist wahnsinnig viel Geld verloren gegangen, wahnsinnig viele Firmen sind Pleite gegangen», erzählt der deutsche Filmemacher Oskar Roehler, «das war ein herber Rück­schlag.» Gleichzeitig diagnostiziert er einen Läuterungsprozess: «Man hat sich aber auch gesagt, dass die bisherige Politik der Verleiher und Produzenten falsch war – sie diktierte von oben Konzepte, die mit dem Zuschauergeschmack nicht kompatibel waren. Deshalb kamen ein paar Leute (ich denke da an Andreas Dresen oder Fatih Akin) mit ihren eigenen Geschichten zum Zug. Sie machen Filme über Deutschland, die vielleicht hart und aggressiv sind und keineswegs publikumsanbiedernd. Sie haben sich einen Namen gemacht und mit ihnen wird auch weiterhin zu rechnen sein. Das ist ein extremer Demokratisierungsprozess.»

Dieser Demokratisierungsschub hilft auch jungen Regisseuren wie Hans Weingartner, der eher nebenbei zum Film kam – tatsächlich ist er Gehirnforscher; das war der Studie über die schizophrene Wahrnehmung, seinem Debütspielfilm «Das weisse Rauschen», deutlich abzulesen. In «Die fetten Jahre sind vorbei» spürt man allerdings eher die Lust, eine Geschichte zu erzählen: Jan, Peter und Jule sind Mitte zwanzig, leben in Berlin und sind in einem Umfeld politisch aktiv, in dem man unschwer die GlobalisierungsgegnerInnen und NoLogo-Szene von Attac erkennt. Doch das reicht ihnen nicht. Nachts ziehen Jan und Peter los in die Villenvororte der Stadt. Sie knacken Alarmanlagen, brechen ein, aber klauen nichts – stattdessen verrücken sie das Mobiliar, türmen Stühle aufeinander, schmeissen Meissner Porzellan ins Klo und auch mal ein Sofa in den Swimmingpool. Und sie hinterlassen, reichlich pädagogisch, Zettel, auf denen man lesen darf: «Sie sind zu reich. Gezeichnet: Die Erziehungsberechtigten.»

Wie kann man heute noch kritisch sein? Wie radikal? Das ist die Frage, die im Zentrum des Films liegt, und Wein­gartner geht sie auch mit Blick auf die Geschichte der Alt-68er an: Denn eines Nachts werden Jule und Jan von einem Hauseigentümer überrascht, sie rufen Peter um Hilfe, nehmen den Mann mit und landen eher hilflos als Entführer auf einer bayrischen Almhütte. Dass sich der Reiche unversehens als Altlinker und Exsponti, als ehemaliger Freund von Rudi Dutschke und Mitbewohner bekannter Kommunen identifiziert, ist kein zufälliger Scherz, sondern die Ironie der Geschichte, auf die es Weingartner abgesehen hat.

Auch in Oskar Roehlers neuem Film, «Agnes und seine Brüder», hält die Wirklichkeit in Form eines Altlinken Einzug, der inzwischen als Grüner im Umweltministerium gelandet ist (Herbert Knaup spiele die Rolle des Werner mit einer guten Portion «Trittinhaftigkeit», schrieb die deutsche Presse) und höchstens von seinem Sohn terrorisiert wird. Denn während Werner sich mit Joschka (gemeint ist der Aussenminister Joschka Fischer) am Telefon anbrüllt und gleichzeitig seine Notdurft am Boden verrichtet, zeichnet sein Sohn die Prozedur mit einer Videokamera auf. Wie in «Die fetten Jahre sind vorbei» spielt auch in «Agnes und seine Brüder» ein Dreierteam die Hauptrollen, neben Werner geht es hier um seine Brüder, der eine, Hans-Jörg, arbeitet als Bibliothekar, beschäftigt sich aber weniger mit den Büchern als damit, leicht bekleidete Studentinnen anzustarren. Der dritte schliesslich, Agnes, hat aus Liebe zu einem Mann das Geschlecht gewechselt – die Anleihen bei Rainer Werner Fassbinders «In einem Jahr mit 13 Monden» sind bewusst gesetzt. Als Hommage an den polarisierendsten, aber auch bekanntesten deutschen Regisseur kann ebenfalls die Vaterfigur im Film gelten, der in einer Zweierbeziehung mit seinem Butler in einer Fünfziger-Jahre-Villa haust.

Während Weingartner seine HeldInnen gemeinsam auf ihre Lehr- und Wanderjahre schickt, schildert Roehler das Schicksal seiner Protagonisten in einer Parallelmontage: Hans-Jörg darf über den Umweg in eine Pornoproduktionsfirma begreifen, was Liebe heisst; Werner kommt knapp am Kettensägenmassaker vorbei und darf in seinem spiessigen Einfamilienhaus über das europäische Dosenpfand nachdenken; und auch Agnes kann einen Augenblick mit dem Mann, den sie liebt, in der Küche stehen, bevor ihre tödliche HIV-Erkrankung zu virulent wird. Bei allen Ecken und Kanten erzählt Roehler – der zwar 1999 mit «Die Unberührbare» einen Sensationserfolg landete, gleichwohl stets schlicht als Berliner Hinterhofregisseur galt – eine für seine Verhältnisse extrem versöhnliche Geschichte.

Bislang hiessen seine Filme «Gierig», «Sylvester Countdown» oder «Suck My Dick», sie spielten in Clubs und in Bordellen, seine Figuren waren sensible Neurotiker und kommunikationsunfähige Psychotiker, getrieben von der Sehnsucht nach Liebe. Wie Menschen hier ihr Innerstes nach aussen kehrten, war an der Kinokasse kaum mehrheitsfähig. Mit 45 Jahren und seinem neunten Film aber scheint Roehler in der deutschen Filmlandschaft angekommen, für «Agnes und seine Brüder» hat er erstmalig optimale Produktions­bedingungen und in Stefan Arndt von X-Filme (der Kinoerfolge wie «Goodbye Lenin» produzierte) einen hervorragenden Produzenten gefunden. Weingartner hingegen zeichnet nicht nur als Drehbuchautor und Regisseur, sondern auch als Produzent; die Finanzierung seines Films war innerhalb von drei Monaten gesichert, danach wirkten RedaktorInnen von «Debüt im Dritten» und Arte stark bei der Entwicklung des Drehbuchs mit.

Was sich hier in Deutschland auf verschiedenste Weise realisiert, ist in erster Linie starkes, professionell produziertes Erzählkino: Zum ersten Mal, bekennt Roehler, habe er eine Form gefunden, von Gefühlen zu erzählen, ohne seine Figuren schliesslich am Boden ihrer Neurosen und Psychosen liegen zu lassen. Stattdessen erlaubt die Parallelmontage Einblicke in kurze Lebensepisoden dreier sehr verschiedener Menschen, für die es (mit Ausnahme von Agnes) auf jeden Fall irgendwie weitergehen wird: «Im wirklichen Leben», sagt Roehler, «funktioniert das ja auch nicht. Und wenn es so ist, dann ist das so schreck­lich, dass es eigentlich auch keiner wissen will. Es macht keinen Sinn. Dagegen sperrt man sich auch als Zuschauer: Man will ja mit einem Sinn aus dem Kino rausgehen, man will, dass die Geschichte eine Moral hat!» Dieses Fazit könnte Weingartner wahrscheinlich ebenso unterschreiben, auch ihm geht es um die Vermischung eines Realitätsprinzips mit einer Utopie. Und auch wenn Daniel Brühl in der Rolle des Jan am Schluss in Sonnenbrille und hellem Anzug ein wenig ausschaut wie Andreas Baader zu seinen besten Zeiten, verlässt man auch «Die fetten Jahre sind vorbei» weniger mit einer Furcht um die Zukunft der Jungradikalos als mit einer Zuversicht, dass sie ihr kompliziertes Leben schon noch in den Griff kriegen werden.

Nicht zuletzt in einem von mittel­ständischen Produzenten getragenen Willen, Geschichten zu erzählen, die nicht nur in Deutschland derzeit auf der Strasse zu finden sind, liegt ein erhebliches Potenzial für ein europäisches Kino. «Ich kämpfe schon seit Jahren für ein Kino, das ein realistisches Deutschland zeigt», bekennt der Produzent Stefan Arndt, «das Leben in Deutschland, wie es wirklich ist – ein Leben, das meist viel interessanter ist, als es sonst im Film gezeichnet wird. Natürlich sind in Roehlers Film die Situationen dramaturgisch zugespitzt und die Charaktere überzeichnet. Aber ihr Verhältnis zueinander, ihr Verhältnis zum Leben, ist echt.» Dieses Konzept übersetzt sich an der Kinokasse und auch bei Filmfestivals in messbare Erfolge, das hat auch Hans Weingartner auf den roten Plüschteppichen von Cannes gespürt: «Beim nächs­ten Film», bekannte er an der Croisette, «muss ich nicht mehr das Haus meiner Eltern verpfänden.»

Agnes und seine Brüder. Regie: Oskar Roehler. D 2004

Die fetten Jahre sind vorbei. Regie: Hans Weingartner. D 2004