Die höfliche Revolution des Herrn K.

«Seit einer Woche gibt es immer neue Anlässe zum Feiern und noch mehr Gründe, sich in die Arbeit zu stürzen. Das Leben ist anstrengend zurzeit – aber auch schön.» Und so stossen die Mitarbeiter des «Zentrums für Gegenwartskunst» in Belgrad erst einmal an: Auf den Abgang von Slobodan Milosevic, auf den Rücktritt des Innenministers Vlajko Stojilikovic, auf das Ende des jugoslawischen Premiers Momir Bulatovic und besonders auf die vorgezogenen Parlamentswahlen, die am 17. November stattfinden sollen. Die Aufzählung liesse sich verlängern. Vor allem die schnelle Aufhebung der wichtigsten Sanktionen und der Besuch des Koordinators für den Stabilitätspakt, Bodo Hombach, wecken Hoffnungen, dass dem politischen Wechsel auch die bitter nötige wirtschaftliche Erholung folgt. Sogar Milosevic-Anhänger, deren Statements zurzeit wenig gefragt sind, geben sich zuversichtlich. «Wenn es besser wird, umso besser», sagt trocken ein junger Aktivist der Sozialistischen Partei. Viele Serben glauben, der Westen habe eine Art Bringschuld abzutragen: Die Bombardierung Serbiens sei ein Verbrechen gewesen, sagt ein Sprecher von Zoran Djindjics Demokraten. Das sei schwer zu vergessen, aber man erwarte jetzt Hilfe und vor allem Chancengleichheit mit den andern Balkanländern auf dem Weg nach Europa.

Wie in der Bibel

Anders als die erleichterten westlichen Reaktionen klingen die Kommentare aus den ehemaligen jugoslawischen «Bruderländern». In Mazedonien, Bosnien und Kroatien befürchtet man den Abzug von westlicher Aufmerksamkeit und Hilfe. Schnell stellt sich der eingeübte antizentralistische Belgrad-Reflex wieder ein. Weitsichtigere PolitikerInnen dieser Länder haben indessen immer gewusst, dass regionale Stabilität ohne Serbien nicht zu haben ist. Empörung hat in Belgrad der Vorschlag des kroatischen Präsidenten Stipe Mesic hervorgerufen, die Aufhebung der Sanktionen an die Zusammenarbeit mit dem Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag zu knüpfen. Aber das ist bereits Schnee von gestern. Man müsse sich daran gewöhnen, schrieb maliziös eine slowenische Zeitung, dass in unmittelbarer Nachbarschaft ein neuer Liebling der internationalen Gemeinschaft heranwachse. «Es ist halt wie in der Bibel», sagt Vojin Dimitrijevic, ein führendes Mitglied der linksliberalen Bürgerallianz, «der bekehrte Sünder freut den Vater mehr als die schon länger Tugendhaften.» Dagegen wirkte ein Kosovo-Albaner am österreichischen Fernsehen eher auf verlorenem Posten, als er behauptete, Vojislav Kostunica habe als Milizenführer im Kosovo gekämpft.
Man gewöhnt sich ja so schnell an die neue Situation. Umso wichtiger ist es, festzuhalten: Was in den letzten Wochen in Serbien geschah, war sehr unwahrscheinlich. Ein Diktator, der die Medien, die Sicherheitskräfte und die Justiz weitgehend kontrollierte, ist zuerst demokratisch abgewählt und, nach anhaltendem Widerstand, durch eine Volksbewegung aus dem Amt vertrieben worden. Und all das ohne das Blutvergiessen, das viele bei einem Wechsel in Serbien erwarteten.

Revolution oder Putsch?

Das erste kleine Wunder war die Einigung der Opposition. Nach dem jahrelangen Trauerspiel der Zerstrittenheit, nach all den eitlen Hahnenkämpfen erschien mit Kostunica zum ersten Mal eine Integrationsfigur auf der Oppositionsszene. «Er wurde sozusagen wissenschaftlich nominiert, als kleinster gemeinsamer Nenner der Opposition», sagt Dimitrijevic. Entscheidend waren die persönliche Integrität des Juristen, seine sprichwörtliche Unbestechlichkeit und – das fehlende Charisma. «Niemand hatte Angst vor ihm, aber er wurde von allen geachtet.» Auch die vielen oppositionellen NGO verloren ihre Berührungsängste vor den etablierten Parteien. «Viele von uns mögen seine nationalistischen Ansichten nicht», sagt Natasa Koturovic von der Europabewegung. «Aber wir wussten: das ist der Mann, der Milosevic besiegen kann, indem er auch dessen Wähler ins demokratische Lager zieht.» Die Kampagne wurde weitgehend vom Westen finanziert. Nach anfänglichen Patzern zeigten auch die USA «low profile» und überliessen die Wahlagenda der vereinigten Opposition. Eine geschickte Mischung aus Antiamerikanismus, vorsichtiger Eurosympathie und einem gehörigen Schuss Nationalismus verhinderte, dass Kostunica vom Regime überzeugend als Natosöldner und Verräter hingestellt werden konnte. Dennoch liess das Regime eine teilweise hysterische Propagandawalze vom Stapel, die viele Menschen abstiess. «Man sollte aber den Medieneinfluss nicht überschätzen», meint Dimitrijevic, «die Leute merken auch ohne Medien, wenn sich ihr Einkommen halbiert.»
Viele angelsächsische Beobachter werten den Umschwung als die letzte Erhebung gegen ein kommunistisches, manche sagen sogar totalitäres Regime in Osteuropa – und man trifft auch in Belgrad viele Liberale und Bürgerliche, die diese Ansicht teilen. Aber eigentlich spricht gerade deren selbstbewusste Existenz gegen diese Sicht. Diese Leute lebten auch in den letzten 13 Jahren nicht im Verborgenen. Zwar wurden sie drangsaliert und von einflussreichen Posten vertrieben. Sie schufen aber gesellschaftliche und kulturelle Nischen, eine Gegenöffentlichkeit, aus der sie sich immer wieder zu Wort meldeten. Dieses Bürgertum war bei den Demonstrationen nach dem Wahlbetrug unübersehbar präsent. Ebenso wie ihre gut ausgebildeten Töchter und Söhne, die nicht zuletzt aus Angst davor, eine verlorene Generation zu werden, für die Öffnung des Landes kämpften. Viele von ihnen arbeiten in international vernetzten NGO, sie kennen den Westen und hoffen nun, endlich im eigenen Land zum Zug zu kommen. Und Otpor, die studentische Widerstandsbewegung, die entgegen der politischen Kultur des Landes stur auf sichtbare Führungspersonen verzichtete, blieb gerade deshalb unbesiegbar. Da war keine Symbolfigur, die man kaufen oder verschwinden lassen konnte.

Die Jungs vom Roten Stern

Für viele liberale und linke Belgrader war das Regime ein Haufen hochgekommener, verschlagener Provinzler, «die Zugereisten», sagt naserümpfend die Feministin Dubravka Djuric. Aber es waren auch Zugereiste, die am Donnerstag dem Regime den letzten Stoss gaben. Während die Belgrader zivilisiert vor dem Parlament demonstrierten, stürmte die Provinz das Gebäude. Vorneweg die Leute aus Canak und die kampferprobten proletarischen Hooligans des Fussballklubs «Roter Stern». Seither gibt es eine Diskussion, wie spontan diese Aktion gewesen sei. Handelte es sich beim Umsturz gar um einen Putsch, abgesprochen zwischen Opposition und Wendehälsen des Regimes? Sicher ist, dass die Armee nicht eingriff. Sie war bis auf die Spitze dazu auch nie bereit, und als Dienstpflichtarmee eignete sie sich für den Einsatz gegen das eigene Volk schlecht. Warum aber griff die hinter dem Fernsehgebäude postierte Spezialpolizei nicht ein? Ein Gerücht besagt, der Kommandant habe den erhaltenen Schiessbefehl einfach missachtet. Revolution oder Putsch? Die Frage ist vorläufig nicht beantwortbar. Vielleicht auch überflüssig: Denn jede gelingende Revolution braucht zumindest die passive Duldung eines Teils der Machthaber, sonst wird sie zum Bürgerkrieg. Und es spricht vieles dafür, dass «die oben» nicht mehr recht an ihre Sache glaubten. Aber das ist «denen unten» zu verdanken, die nicht nachgaben.
Dabei war sich die Opposition anfangs nicht so sicher, ob der von Milosevic geforderte zweite Wahlgang wirklich boykottiert werden sollte. Vesna Pesic, Präsidiumsmitglied der Bürgerallianz, hielt das damals für einen Fehler. «Milosevic war nach der Wahl geschwächt. Wir hätten ihm unsere Bedingungen für den zweiten Wahlgang diktieren können: Öffnung der Medien und internationale Beobachtung.» Aber Pesnic wurde überstimmt. «Wir Serben sind ein stures Volk», sagte Zoran Sami, Vizepräsident von Kostunicas Demokraten, «Recht muss Recht bleiben, sonst verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit.»
Es war eine uncharismatische, zivile, fast höfliche Revolution. Der eigentliche Umsturz forderte zwei Tote und einen Verletzten. Ein Mädchen fiel von einem Bulldozer und wurde überrollt, ein Mann erlitt einen Herzinfarkt und der Direktor des staatlichen Fernsehens wurde übel verprügelt, aber im letzten Moment von Demonstranten gerettet. Das Parlament wurde geplündert und gebrandschatzt. Ebenso das Fernsehgebäude. Trotzdem, weshalb diese Zurückhaltung auf beiden Seiten? «Wir haben eben jahrelange Erfahrung: wir wissen, wie man friedlich demonstriert,» meint eine junge Oppositionsveteranin. «Die Zeit war einfach reif, und das haben alle gewusst. Sogar die Polizisten», sagt ein anderer. Ein Journalist erklärt das Unwahrscheiliche mit der serbischen Natur, die im Grunde tolerant und gewaltlos sei.
Das klang auch schon mal anders. Und bereits hört man Stimmen aus dem Ausland, die eine schnelle kollektive Vergangenheitsbewältigung fordern. Ohne geklärte Vergangenheit keine prosperierende Zukunft, heisst die Formel. Aber vielleicht ist eher das Gegenteil richtig: Ohne klare Zukunftsperspektive keine Bewältigung der Vergangenheit. Die Feiernden im «Zentrum für Gegenwartskunst» sehen das differenzierter: «Wir wollen und müssen uns mit der Vergangenheit beschäftigen. Aber wir machen das gern allein und am besten ohne Druck von aussen. Wir brauchen auch etwas Zeit. Schliesslich spricht man in Frankeich auch erst seit ein paar Jahren offen über Vichy.»