Eine Rückkehr nach Belgrad im Winter

Das Regime, die Bomben der Nato, das Regime. Und jetzt auch noch die vergiftete Donau. Wie stirbt man in der serbischen Hauptstadt?

Mein erster Tag in Belgrad war ungetrübt schön. Der Schnee verdeckte all die eindeutigen Zeichen des totalen Verfalls dieser zwar nie besonders schönen, aber einmal sehr lebendigen Stadt. Es herrschte eine trügerische Idylle am ersten Tag meiner Winterreise nach Serbien. Sie endete im Fieber, mit dem die Stadt seit Wochen lebt. Bei ansteigenden Temperaturen schmolz nicht nur die gnädige Schneedecke, auch die Zahl der an Grippe Erkrankten stieg rasch an – als ob die Viren unter dem Schnee nur darauf gewartet hätten, über die Menschen herzufallen.

Unter den Verwandten, den FreundInnen und KollegInnen blieb keine Familie von der Grippe verschont. Die Krankenhäuser konnten die Kranken kaum noch aufnehmen, und private Arztpraxen waren überfüllt, obwohl keine Krankenversicherung deren Kosten übernimmt. Die Apotheken waren wie leer gefegt, die staatlichen mit ihrem dürftigen Angebot, wie die zahlreichen privaten, die westliche Preise verlangen. Sie verkauften ausländische Präparate, auf deren Packungen gut sichtbar davor gewarnt wurde, dass sie etwa von der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde für den nationalen Markt noch nicht zugelassen seien. Und bei all dem weigerte sich die serbische Regierung, Notmassnahmen für den Fall einer Epidemie einzuleiten.

Auch meine vierjährige Tochter erkrankte. Ich brachte sie zu einem privaten Kinderarzt, dessen Praxis sich in ihrer Ausstattung durchaus mit denen in Berlin oder Zürich messen konnte. Immerhin hetzte der Arzt hier nicht von einem kleinen Patienten zum nächsten, er schien beliebig viel Zeit für seine Kranken zu haben, rief später sogar noch einmal an, um sich nach dem Befinden meiner Tochter zu erkundigen. Die Untersuchung kostete samt Labortest 25 Mark – nicht viele Eltern können sich das leisten. Ein Gymnasiallehrer verdient 1600 Dinar, die in mehreren Raten und mit wochenlanger Verspätung ausbezahlt werden, das sind achtzig Mark nach dem realen, auf der Strasse gehandelten Wechselkurs für das zweite, in der Privatwirtschaft gängige Zahlungsmittel.

Der Arzt, Ende vierzig, erzählte, zu ihm kämen immer wieder Menschen, die davon überzeugt seien, dass ihre Kinder laufend erkrankten, weil Nato-Flugzeuge die ganze Gegend mit Erregern verseuchten. Und dann gebe er ihnen Recht, sagt der Arzt, die Kinder erkrankten wirklich «wegen der Nato». Doch die Zufriedenheit darüber, dass sie von einem «Experten» in ihrer Befürchtung bestätigt würden, halte nicht lange. Denn dann hörten sie die andere Wahrheit. Sie alle hätten aufgrund der Bombardierung Monate unter enormem Druck hinter sich, klärt der Arzt auf. Die körpereigene Widerstandskraft sei in der Zeit enorm gestiegen, um ebenso enorm wieder zu fallen, nachdem der Stress sich gelegt habe. So folgten auf die Bomben die immer neuen Krankheiten. Die Menschen in Serbien seien einfach völlig zermürbt, ohne Lebenskraft.

Nachdem die Zahl der Grippekranken in Belgrad ständig gewachsen war, wurden nicht nur Medikamente knapp. Im letzten Monat kosteten Zitronen, soweit sie überhaupt zu finden waren, plötzlich 100 Dinar, fünf Mark, pro Kilo.

Für einen halben Hirsch

Vor meiner Reise fragten mich Freunde, wie man in Belgrad eigentlich lebe. Ich erzählte ihnen, was ich von meinen Eltern und früheren KollegInnen gehört hatte, und versprach ausführlichere Informationen bei meiner Rückkehr. Nach einigen Wochen in meiner Stadt erscheint mir die Frage passender, wie man dort stirbt.

Die Zahl der Begräbnisse schnellte im Januar bei strengem Frost und einer dichten Schneedecke in unverhältnismässige Höhen. Die Wartezeit für Bestattungen überstieg eine Woche. Die Zeitungen rechneten vor, dass ein anständiges Begräbnis knapp 12 000 Dinar kostet, mehr als das Zehnfache einer durchschnittlichen Monatsrente. Wer wohl das Begräbnis der zwei kleinen Flüchtlingskinder bezahlt hat, die bei einem Brand umkamen? Ihre Geschichte war den Zeitungen gerade ein paar Zeilen wert: Sie lebten am Rande Belgrads in einer der Siedlungen von aus dem Kosovo, aus Kroatien oder aus Bosnien geflohenen serbischen Familien. Es war kalt in der aus Brettern und Pappe zusammengenagelten Hütte. Die Eltern waren wieder mal unterwegs auf Arbeitssuche, da versuchten die Kinder selbst, den Holzofen anzumachen. Ein Brand brach aus, nur das älteste Kind konnte sich retten.
Menschenleben sind wenig wert im Serbien Slobodan Milosevics. Die Familie eines während des Kosovo-Krieges getöteten Soldaten bekommt vom Staat 200 000 Dinar (rund 8000 Franken), wenn sie Glück hat. In einem der serbischen Wildreservate kostet der Abschuss eines Hirsches 400 000 Dinar, die selbstverständlich in harter Währung zu entrichten sind. «Die Eltern, die mich engagieren, um vom Staat eine Hinterbliebenenrente für ihren gefallenen Sohn einzuklagen, fragen sich, ob das Leben ihres Sohnes wirklich nur einen halben Hirsch wert ist», berichtete ein Rechtsanwalt.

Im Verlauf des dreiwöchigen Besuchs in meiner Heimatstadt starben fünf Menschen, die ich kannte – Freunde, Kollegen, Verwandte. Unter anderen Umständen, in einem anderen Land wären sie wahrscheinlich alle mit dem Leben davongekommen. Eine nahe Verwandte meines Mannes bekam am Abend vor unserer Abreise einen Herzinfarkt. Fast zwei Stunden hat sie auf den Rettungswagen warten müssen. Als sie endlich in der Klinik angekommen waren, überreichte ein Arzt ihrem Mann eine längere Liste mit Medikamenten für die Kranke, die die Klinik leider nicht zur Verfügung habe. Er rannte die ganze Nacht rum, bis er endlich alle Medikamente für viel Geld beisammen hatte, kehrte ins Krankenhaus zurück, und da war es bereits zu spät.

Nur Chinesen lachen

Mit meiner Schwester, die für eine im Wesentlichen ausländisch finanzierte humanitäre Organisation arbeitet, besuchte ich eine Roma-Siedlung in einem Aussenbezirk der Stadt. Eine alte Frau sagte, ihre Hauptbeschäftigung sei es, auf den Tod zu warten. Bis dahin versuche sie, ihre Enkelkinder durchzubringen. Sie koche, berichtete sie, mit Essensresten, die die Kleinen aus der Stadt bringen. Aus der Stadt, das heisst, aus den Mülltonnen. Den Müll durchstöberten in den Tagen, in denen Belgrad unter der dicken Schneedecke lag, Kinder, Frauen und Männer, ganz offenbar in der Hoffnung, nach den vielen Feiertagen besonders wertvolle Reste finden zu können. Manchen älteren Frauen sah man deutlich an, dass sie einmal ein besseres Leben geführt haben, ihre Mäntel verrieten früheren Wohlstand. Mehr als dreissig Prozent der serbischen Bevölkerung gelten als arm. Nach offizieller Darstellung ernähren sich heute in Serbien 100000 Personen in Armenküchen. Es sind dies vor allem Kriegsflüchtlinge, Veteranen der Armee, aber auch jüngere Menschen, die keine Arbeit finden.