Öl und Plastik: Erdöl ist das ganze Leben
Hierzulande bekommt man Erdöl nie zu sehen. Doch es ist allgegenwärtig. Wie kommt es in die Schweiz? Und wie kommt es, dass wir mit ihm die Zähne putzen, schreiben oder es überziehen?
Am Rhein, irgendwo zwischen Muttenz und Birsfelden, nur wenige Kilometer von Basel entfernt, liegt eine kleine Stadt am Rhein, in der niemand wohnt. Man könnte sie Avia-Stadt nennen. Die Gebäude sind rund, hoch wie Kirchtürme, mit flachen Dächern, ohne Fenster. Hier ist das Erdöl zu Hause. Man sieht es nicht, man riecht es nicht. Man weiss nur: Wenn in diese Tanks ein Flugzeug stürzt, gibt es ein Inferno, wie es die Schweiz noch nie gesehen hat. Darüber fliegen dürfen sie, ohne Einschränkung. Jesus Lopez sagt, ein Flugzeugabsturz sei eigentlich das Einzige, was ihm Sorgen bereite. Ansonsten sei es zwischen seinen achtzig Tanks so ungefährlich wie anderswo.
Die Dämpfe in den Tanks sind übersättigt, sie können sich nicht entflammen. Ausser in entleerten, aber nicht richtig gereinigten Tanks. Die Benzindämpfe vermengen sich mit Sauerstoff und werden hoch explosiv. Bei Reparaturarbeiten tragen die Arbeiter Explosimeter, die messen, wie gefährlich die Luft ist. Passiert ist noch nie etwas, seit Lopez hier am Ufer des Rheins arbeitet. Vor dreissig Jahren hat er bei der Avia AG begonnen, heute ist er ihr Geschäftsführer.
Avia-Stadt funktioniert wie ein See – nur umgekehrt, das Öl fliesst aufwärts, kommt in Tankern von Rotterdam, Amsterdam oder Antwerpen über den Rhein nach Basel, ruht sich in Avia-Stadt aus, bevor es sich fein übers Land verteilt und die hintersten Bergdörfer erklimmt.
Insgesamt gibt es im Basler Rheinhafen Tanklager von sechs verschiedenen Betreibern. Über dreissig Prozent des Schweizer Brenn- und Treibstoffes gelangt auf diesem Weg ins Land, 2002 waren dies 4,1 Millionen Tonnen. Ein Drittel davon fliesst durch Avia-Stadt.
Avia ist ein Selbsthilfeprojekt der Kleinen. Oder wie es Avia auf ihrer Website sagt: «Als Alternative zu den internationalen Mineralölkonzernen schlossen sich 1927 unter dem Namen Avia mehrere unabhängige Mineralölimporteure in der Schweiz zusammen. Avia ist im Gegensatz zu anderen Wettbewerbern kein multinationaler Konzern, sondern eine typisch schweizerische Institution: Die Avia-Mitglieder profitieren von den Vorteilen einer internationalen Gruppe, bleiben aber jederzeit selbständig.» Avia gehört acht Familienbetrieben, mit ihren eigenen Tankstellen und Heizölfirmen, die einen gemeinsamen Namen und eine gemeinsame Infrastruktur geschaffen haben, um sich am weltweiten Erdölstrom anzuschliessen. Avia ist wie eine Grossfamilie, alle leben unter einem gemeinsamen Dach, aber jedeR kommt für seinen/ihren Unterhalt selber auf. Die Avia-Familie bringt es in der Schweiz auf 680 Tankstellen – weder Shell noch BP oder Migrol haben ein so weites Netz.
Lebender Plastik
Szenenwechsel. Was hat eine Faserpelzjacke mit einem Computer zu tun? Plastik. Das Wort stammt vom griechischen plassein, «aus weicher Masse bilden, formen». Fachleute nennen es nüchtern Kunststoff.
Kunststoff ist genau genommen nicht künstlich. Vor hundert bis dreihundert Millionen Jahren lebten unsere Zahnbürsten und Computertastaturen als winzige Lebewesen und Algen in seichten Meeren. Die Strömung trieb die kleinen Tierchen und Pflanzen in weite, flache Buchten. Dort ging ihnen der Sauerstoff aus, sie starben, sanken zu Boden und wurden von Schlamm bedeckt. Unter Hitze, Druck und Zersetzung verwandelte sich das Plankton nach unendlich langer Zeit zu Erdöl. Das besagt zumindest eine Theorie. Genau weiss man bis heute nicht, wie das Erdöl entstanden ist. Man weiss nur, dass es vor Urzeiten gelebt hat und demnach eine Form von gespeicherter solarer Energie ist.
Erdöl wurde schon vor Jahrhunderten als Brennstoff für Lampen benutzt. Die Geschichte des Kunststoffes ist indes jünger. Man erzählt sich, der erste Kunststoff sei einem US-amerikanischen Billardspieler zu verdanken. Er ärgerte sich über seine Kugeln aus echtem Elfenbein, die nie geradeaus liefen. Der Billardspieler bot demjenigen 10 000 Dollar, der einen ebenmässigen Stoff erfand. Die Gebrüder Hyatt probten zur jenen Zeit mit Schiessbaumwolle, mit Salpeter behandelter Baumwolle, die man als Sprengstoff benutzte. Die Hyatts lösten den gefährlichen Stoff in einem Gemisch aus Alkohol und Kampfer und erhielten einen sensationellen Stoff: zäher als Leder und durchsichtig – «Celluloid». Der Urplastik war geboren. Zurück nach Avia-Stadt. Träge gleitet der Rhein vorbei. An Steiger drei liegt die «Rotterdam», ein Schiff unter Schweizer Flagge mit einem Auto auf dem Bug. Auf Steiger vier ruht die «Aswinthia», mit französischer Flagge. Männer stehen herum. Plaudern. Warten.
Steiger, das sind riesige Konstruktionen, die in den Fluss ragen. Die Schiffe docken hier an. Wenn die Papiere stimmen, hängen die Schiffer ihre Tanker mit riesigen Schläuchen ans Avia-Rohrsystem. Sie können zwischen 200000 und 600000 Liter pro Stunde abpumpen. In vier bis zwölf Stunden sind die Kähne leer, je nach Lademenge und Pumpleistung.
An langweiligen Tagen kommt kein Schiff, an hektischen wollen zehn bis zwölf gelöscht werden. Genau planen kann man das nicht. Lopez weiss nur wenige Tage im Voraus, dass ein Schiff kommt. Die Frachten werden manchmal noch auf dem Rhein verkauft. Sie gehören den Händlern. Avia stellt nur Steiger, Tanks und Personal – und wird für seine Dienstleistungen bezahlt. Umsatzzahlen nennt Lopez keine, dezent spricht er von Millionen.
Kunststoffhunger
13 222 721 Tonnen. So viel Rohöl, respektive Benzin und Heizöl hat die Schweiz laut Statistik im Jahr 2002 eingeführt. Das ist aber nicht der wirkliche Erdölverbrauch – denn das Erdöl, das in Zahnbürsten, Computermäusen, Goretex-Jacken oder Fensterrahmen steckt, ist nicht eingerechnet. In der Schweiz gibt es knapp 650 Betriebe, die Kunststoff verarbeiten. Sie machen einen Umsatz von knapp 10 Milliarden Franken und verbrauchen jährlich 800 000 Tonnen Kunststoff. Die Ems-Chemie ist eines der wenigen Unternehmen der Schweiz, die selber Kunststoff herstellen.
Weltweit werden nur 4 Prozent des verbrauchten Erdöls in Plastik umgeformt – fast 90 Prozent gehen drauf für die Wärme- und Energieerzeugung (42 Prozent) sowie im Verkehr (45 Prozent). «Eigentlich schade um jeden Liter Öl, der unwiederbringlich durch den Schornstein oder durch den Auspuff gejagt wird», schreibt der Kunststoff Verband Schweiz. Und argumentiert, mit 100 Kilogramm könne man eine Vierzimmerwohnung eine Woche lang heizen oder «3500 Tragetaschen aus Polyethylen-Folie oder 8000 Jogurtbecher aus Polystyrol oder 13 000 medizinische Einwegspritzen aus Polypropylen» herstellen.
Eine Frage bleibt: Wie viel Erdöl steckt nun wirklich in unserem Alltag? Einige Antworten liefern Ökobilanzen, die die graue Energie eines Produktes berechnen. Zum Beispiel eine Faserpelzjacke: Sie wird aus Erdöl fabriziert, gleichzeitig braucht aber auch der Produktionsprozess und der Transport Energie. Alles zusammen ist die graue Energie, die in einem Produkt steckt. Im Falle der Faserpelzjacke ist dies eine Energiemenge, die 1,05 Kilogramm Erdöl entspricht. In einer Zahnbürste stecken 38 Gramm Erdöl, in einem Handy 360 Gramm, in einem Computer mit Monitor sind es 54 Kilo. Die Produktion eines Mittelklassewagens benötigt mehr als tausend Kilogramm.
Wie viel macht der Erdölhunger von sieben Millionen Menschen aus? Eine genaue Zahl gibt es nicht. Die einzige Annäherung, die existiert, lässt sich aus einer Studie des Bundesamtes für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal) ablesen. Rolf Frischknecht und Niels Jungbluth haben für diese Studie die «Grauen Treibhausgas-Emissionen des Energie- und des Ernährungssektors der Schweiz» errechnet. Dabei geht es um alle CO2-Emissionen, die entstehen, wenn fossile Energie wie Erdöl, Gas oder Kohle verbraucht wird. Die Schweiz hat einen kleinen Industriesektor und steht deshalb bei den Pro-Kopf-Emissionen besser da als andere Industrieländer. In einem OECD-Land werden pro Person jährlich 11 Tonnen CO2 freigesetzt. In der Schweiz sind es nur 7,5 Tonnen. Rechnet man dies um auf Erdöl, entspräche dies einem Pro-Kopf-Erdölverbrauch von 3,5 respektive 2,4 Tonnen Erdöl. Dieser Vergleich blendet jedoch alle fossile Energie aus, die die Schweiz im Ausland verbraucht, weil sie Gebrauchsgüter, Nahrungsmittel oder Energie importiert. Rechnet man dies alles ein, verursacht jedeR SchweizerIn pro Jahr 13 Tonnen CO2 – also fast doppelt so viel wie in den offiziellen Statistiken aufscheint. Das nennt sich grünwaschen – ein buchhalterischer Schwindel, mit dem sich die CO2-Abgabe unterminieren lässt.
Kesselwagen und Camions
Bahnhof in Avia-Stadt. Drei Geleise, ein Gebäude darüber und eine Reihe brauner Kesselwaggons. Die Luke des einen Kessels ist offen. Träge gleitet das Einfüllrohr hinein. Lopez nennt das Rohr Verlader und sagt, der allein koste schon eine Viertelmillionen Franken. Das Ding schafft es, pro Minute 11 500 Liter Benzin oder Heizöl in einen Kesselwagen zu pumpen – das würde reichen, um an einer Tankstelle die Tanks von 250 Autos in einer Minute zu füllen.
Fast fünfzig Prozent des Heizöls und Benzins verlässt Avia-Stadt über die Schiene. Früher war das anders, da lief die Feinverteilung zu achtzig Prozent über die Strasse. Die Schwerverkehrsabgabe habe in diesem Geschäft viel bewirkt, sagt Lopez. Tanklastwagen müssen leer nach Basel fahren, das lohnt sich nur noch beschränkt. Lopez ist nicht glücklich darüber. Die Camions befreien die Avia von Arbeit. Die Chauffeure fahren ihre Tankwagen durch Avia-Stadt, checken ein, der Computer kontrolliert ihre Identität, weist sie ein, kontrolliert, ob sie das Richtige tanken, und rechnet ab. In zehn Minuten ist ein Camion gefüllt und wieder weg. Züge machen mehr Mühe, die Avia-Leute müssen sie füllen und rangieren.
24 Menschen arbeiten hier. Und schlagen jährlich 1,5 Millionen Kubikmeter Treib- und Brennstoff um. Wäre es nur Benzin, würde es reichen, um 32 Millionen Autos einmal zu betanken.