Hauptstadt des Windes: Die Banalität der Grenze

Im spanischen Tarifa treffen SurferInnen jeden Tag auf Flüchtlinge aus Afrika. Bald wird die Gegend die bestüberwachte in Europa sein. AktivistInnen nahmen dies zum Anlass für ein Experiment in Sachen transnationaler Vernetzung.

Die monströse Herz-Jesu-Statue hat dem europäischen Festland den Rücken zugekehrt, als wolle sie sich nur dem widmen, was auf dem Meer passiert. Es ist Ende Juni, ein windiger Sommerabend. Langsam schiebt sich, flankiert von einem Schnellboot der Guardia Civil, ein knallroter Schlepper der Küs­tenwache hinter dem Säulenheiligen hervor, der in faltigem Gewand, die Hände halb erhoben, auf einem massiven Sockel am äussersten Ende der Hafenmole von Tarifa über dem Wasser thront. Im Schlepptau der beiden Schiffe befindet sich ein Schlauchboot, das die spanischen Grenzschützer gerade aufgebracht haben. An Bord sind etwa fünfzig Passagiere, deren Reise erst einmal zu Ende ist.
In Andalusien hat die Hochsaison begonnen. Jede Nacht machen sich hunderte illegaler EinwanderInnen von Marokko aus auf nach Spanien. Nur 29 Kilometer sind es von Tanger im Norden Marokkos bis nach Tarifa, dem südlichsten Punkt Europas am äussersten Ende der Iberischen Halbinsel. Die Menschen, die hier wohnen, nennen die Strasse von Gibraltar lapidar «Estrecho», die Enge.

Am Strand wartet die Polizei

Seit zehn Jahren – seit der spanische Staat dem Schengener Abkommen beigetreten ist – wird die Gegend um Tarifa nun systematisch zu einer der bestüberwachten Grenzen der Welt hochgerüs­tet. Doch die Auswirkungen sind auf den ersten Blick kaum feststellbar und wirken zugleich umso verstörender: Nirgendwo wird die Banalität der Grenze deutlicher als hier. In der «Hauptstadt des Windes», wie das Windsurfparadies Tarifa auch genannt wird, ist die Abwick­lung der illegalen Einwanderungswelle inzwischen längst zum Alltagsgeschäft geworden – neben Thunfischfang und gehobenem Individualtourismus.

Als die Flüchtlinge, die eben von der Küstenwache in Gewahrsam genommen wurden, an Land gehen, werden sie bereits erwartet: Ein Gefangenentrans­porter der paramilitärischen Guardia Civil, Polizei und Küstenwache sowie Mitarbeiter des Roten Kreuzes, eine Handvoll JournalistInnen und drei Fernsehteams stehen empfangsbereit an der Herz-Jesu-Mole, der Hafenbefestigung im Rücken des gleichnamigen Monumentes.

Jetzt aber ist keine Zeit mehr für Kitsch und Sentimentalität. Was nun folgt, ist Routine: Die Flüchtlinge werden ins Hauptquartier der Guardia Civil zur Feststellung von Identität und Herkunft geschafft, danach geht es in ein Erst­aufnahmelager auf einer kleinen ­Insel vor Tarifa und dann ins Abschiebelager in den zwanzig Kilometer entfernten Fährhafen Algeciras. «Wer aus Marokko kommt oder einem Land wie ­Nigeria, mit dem der spanische Staat ein Rückübernahmeabkommen hat, wird sofort nach Marokko abgeschoben», sagt Nico Scuglia vom So­cial Forum in Málaga. Der junge Aktivist, der eigentlich aus Argentinien kommt, arbeitet seit Jahren in den verschiedens­ten Netzwerken zum Thema Migration.

Im Sommer 2001 hatte Scuglia ein «noborder»-Aktions-Camp gleich unten am Strand organisiert. Drei Jahre später ist er wieder hier. In der alten Burg von Tarifa trifft sich eine ungewöhnliche Teilnehmerschaft zu einer noch ungewöhnlicheren Veranstaltung: Menschenrechtsaktivisten, Gewerkschafterinnen, Migrationsexperten aus ganz Spanien und verschiedenen Teilen Marokkos ­haben zusammen mit Künstlerinnen, Filmemachern und Netzaktivistinnen die verwinkelten Gemäuer aus dem 10. Jahrhundert für ein gewagtes Experiment in Sachen transnationaler Vernetzung in Beschlag genommen.

Die Burg, um die Spanier und Mauren jahrhundertelang erbittert kämpften, die der Kalif Abderramán III. auf den Überresten eines römischen Militärlagers erbaute und die zuletzt auch Napoleons Truppen nicht einnehmen konnten, ist Schauplatz einer ganz neuen Art von Zivilcourage im Zeitalter von neuen Medien und neuen Migrationsbewegungen. Drei Tage lang soll es bei «Transacciones/Fadaiat» (das spanische Wort für Transaktionen und das arabische für Satellit und Raumschiff) darum gehen, die Grenze, die hier oben auf dem Felsen alle vor Augen haben, zu analysieren und zu kartografieren, zu unterminieren und zu überschreiten – und zwar mit allen Mitteln der Kommunikation. Gemeinsam sollen Projekte entwickelt und Brücken – in diesem Fall virtuelle – über die militarisierten Grenzen hinweg errichtet werden. Dazu soll ein elektronisches Archiv aufgebaut werden, das die jüngere Geschichte sozialer Bewegungen und der Migration rund um die Strasse von Gibraltar dokumentiert.

Der Radar stört

In der kleinen Kapelle der Burg dis­kutieren Hausbesetzer aus Madrid mit marokkanischen Indymedia-Aktivisten und Soziologinnen, die die Verlagerung der Grenze nach Süden erforschen. Lokale FlüchtlingsunterstützerInnen tauschen sich mit Frauenrechtlerinnen aus Larache, Community-Vertretern aus dem Rif-Gebirge, Sprechern der marokkanischen Arbeitslosenbewegung und Arbeiterführern aus der Gemüseindustrie von Almeira aus. Radio- und FilmemacherInnen dokumentieren, mischen, schneiden und senden die Konferenzbeiträge im Internet. Sobald es dunkel wird, übernehmen DJs und VJs, Musikerinnen und Performance-Künstler das Kommando über die drei Burghöfe.

Höhepunkt des Spektakels ist eine Videokonferenz über eine drahtlose Internetverbindung von Tarifa nach Tanger, die die NetzaktivistInnen mithilfe einer extrastarken Antenne bewerkstelligen. Der kleine Sendemast, für den erst am Tag zuvor die offizielle Genehmigung erteilt worden war, steht auf dem höchsten der vier Türme der Fes­tung und sieht eher aus wie ein Ventilator. Lange Kabel winden sich um die Burgmauern, verlaufen quer durch die engen Treppenhäuser und historischen Burggemächer, in denen die AktivistInnen ihre Köpfe über Bildschirmen zusammenstecken.
Der Radar von Küstenwache und Flugzeugträgern, die in der geostrategisch wichtigen Meerenge patrouillieren, stört zwar immer wieder den Empfang, und die Bilder aus der Universität von Tanger und einem kleinen Kaffeehaus in der Altstadt brechen nach kurzer Zeit in sich zusammen; doch José Pérez de Lama, genannt Osfa, einer der Organisatoren der Veranstaltung, ist zufrieden. Er versteht diese Art von Low-Tech-Aktivismus vor allem als Symbol: «Es geht uns darum, zu zeigen, wie eng heute die Themen Kommunikationsfreiheit und Bewegungsfreiheit miteinander verknüpft sind.»

Die exponierte geografische Lage Tarifas scheint dafür verantwortlich, dass Widersprüche nicht nur unvermittelt aufeinander prallen, sondern sich auch Thesen, die an anderen Orten vielleicht noch recht abstrakt klingen mögen, hier wie von selbst erklären. Wo sich militärische, paramilitärische und zivile Kontrollregime mit ökonomischen Ausbeutungsgefügen überlagern, ungeheure ­legale und illegale Verkehrsströme zu managen sind und jeder Quadrat­zentimeter rund um die Uhr überwacht wird, liegt die besondere Bedeutung vernetzter Kommunikationstechnologien auf der Hand. Was aber, wenn diese nicht nur für die Einschränkung der Bewegungsfreiheit die entscheidende Rolle spielen, sondern auch für deren Wiedererlangung?

«Wir haben fünf Tage an der marokkanischen Küste gewartet, ohne etwas zu essen und zu trinken zu haben. Um zwei Uhr nachts sind wir ins Boot gestiegen. Die Überfahrt nach Spanien dauerte dreizehn Stunden. Die Schiffsführer waren Spezialisten. Vielleicht haben wir deshalb so lange Zeit auf dem Wasser verbracht. Wir mussten Kriegsschiffe umfahren – nachts marokkanische, tagsüber spanische. Aber als wir ankamen, wurden wir schon von der Guardia Civil erwartet.»

Aus Moussa wird John

Mitten in die Konferenz platzt die Nachricht, dass nur ein paar Kilometer ausserhalb von Tarifa drei Flüchtlingsboote im militärischen Sperrgebiet gelandet sind. Einer der Flüchtlinge ist Moussa, dem die Behörden später den Namen John geben werden und eine libe­rianische Staatsbürgerschaft andichten, obwohl er kein Wort Englisch spricht, aber so unverzüglich wieder abgeschoben werden kann. Moussa kommt überraschenderweise nach zwei Tagen in Lagerhaft frei, weil er Kontakt zu einer Vertreterin des lokalen Netzwerks zur Unterstützung der Flüchtlinge hat, die den Behördenchefs tagelang mit seinem Fall in den Ohren liegt.

«Moussa schloss Flüchtlinge aus Ländern zusammen, aus denen nur Einzelne kamen, die – mehr oder weniger auf sich allein gestellt – sich in einer ziemlich aussichtslosen Lage befanden», erzählt Nico Scuglia vom Social Forum. Noch in Marokko, in den klandestinen Lagern, in denen die Flüchtlinge manchmal monatelang auf eine Gelegenheit zur Überfahrt warten, sind unabhängige Kommunikationsstrukturen von entscheidender Bedeutung. Normalerweise sind nur grössere Communities in der Lage, immer wieder die notwen­dige Infrastruktur wie Mobiltelefone, Adressen und Kontakte zu den verschiedenen Netzwerken zu organisieren.

Scuglia ist vor diesem Hintergrund besonders angetan vom Echo, das die Konferenz auf der anderen Seite der Meerenge hervorgerufen hat, wo ein Telefon oder gar ein Internetzugang noch lange keine Selbstverständlichkeit darstellen. Im nächsten Jahr wollen die AktivistInnen von Al-Jwarezmi aus Marokko die Veranstaltung unter umgekehrten Vorzeichen in Larache fortsetzen.
Auch Osfa aus Sevilla sieht die grösste Herausforderung darin, dass ein politisches Projekt wie «Transacciones/Fadaiat» nicht in plattem Aktionismus oder schnelllebigen Medieneffekten verraucht, sondern bemüht sein muss, es mit der Vielschichtigkeit und Komplexität des postmodernen Grenzregimes aufzunehmen. «In der Meerenge kreuzen sich schliesslich nicht nur militärische und ökonomische Ströme, sie treffen eben auch auf die selbstbestimmten Bewegungen einer Multitude, die sich über Grenzen hinwegsetzt und vernetzt.»

Demonstration der alten Schule

Trotz neuen Kommunikationsmedien kommt es am Ende der Konferenz noch zu einer spontanen Demonstration der alten Schule: Gerade als die Gefangenentransporter der Guardia Civil die Flüchtlinge, die im Laufe des Tages gefasst wurden, von der Hafenmole schaffen wollen, stürzen die KonferenzteilnehmerInnen aus der Festung und blockieren für eine halbe Stunde den Abtransport. Aber die Kräfteverhältnisse sind bezeichnend: Sechs AktivistInnen sperren mit einem langen Transparent das Hafentor, ein gutes Dutzend weitere tummelt sich auf der Strasse mit Videokameras in der Hand.

Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Moussa schon im Abschiebelager in Algeciras: zusammen mit sechzehn anderen Menschen in einem dreckigen Zimmer, in dem statt Betten nur einfache Bänke ohne Decken stehen. Nach den Torturen der Überfahrt konnte er auch die erste Nacht in Europa nicht schlafen; zu essen gab es erst am zweiten Tag – ein kleines Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee. Er versteht die Welt nicht mehr und bringt dabei doch den eklatantesten Widerspruch auf einen Punkt: «Wenn sie uns den Weg versperren wollen, sollen sie es wenigstens so machen, dass wir von Anfang an wissen, dass die Grenzen geschlossen sind.»