Im Innern der Kuh: Die Kunst des Wiederkäuens

Der Biobauer Martin Ott erklärt, wie das Seelenleben der Kühe funktioniert und was die Menschen von diesen Tieren lernen könnten.

WOZ: Sie haben in Ihrer Kuhherde im zürcherischen Rheinau einen mächtigen Stier. Ist das Nostalgie? Heute kommt bei den meisten Schweizer Kühen der «Köfferlimuni» vorbei – also der Besamungstechniker mit dem tiefgefrorenen Sperma.
Martin Ott: Eine Herde ohne Stier ist für mich nicht denkbar. Er kümmert sich um die Fruchtbarkeit, und das geht weit über das Decken hinaus. Ich habe einmal beobachtet, wie mein Stier mit einer Kuh «Rückbildungsturnen» machte. Weil die Nachgeburt nicht richtig abging, schubste er die Kuh an, ging ihr nach und sorgte dafür, dass sie sich immer bewegte, immer weiterlief. Das war genau das, was sie in dieser Situation tun sollte. Ein Stier ist immerzu mit den Fruchtbarkeitszyklen seiner Kühe beschäftigt; mit den Gerüchen jeder einzelnen Kuh zum Beispiel. Eine Kuhherde mit einem Stier ist viel ruhiger, ein Stier duldet nicht, dass die Kühe ständig raufen. Wenn ein Stier in einer Herde zum Boss wird, dann wird der Mensch zum Konkurrenten, und das kann gefährlich werden. Dann stellt sich die Frage, wie man sich mit dem Stier arrangiert. Bei mir auf dem Hof gibt es eine klare Gewaltentrennung: Im Stall bin ich der Chef, und auf der Weide ist es der Stier.

In jeder Herde gibt es eine Rangordnung. Wie manifestiert sich diese?
Die Kuh ist ein Herdentier, ein soziales Wesen. Jede Kuh hat ihren Platz in der Herde. Es gibt eine Hierarchie, oder besser: ein Netz, das sich laufend ändern kann. Bei unserer Herde beobachte ich mindestens drei Hierarchieebenen. Wenn ich ein Weidentor aufmache, dann stehen die stärksten Kühe nebeneinander am Tor; sie schauen mich an, empfangen mich und wollen nach Hause. Hinter ihnen steht die ganze Herde, aber sie kümmern sich nicht darum. Dann folgt der grosse Ring der Zweitklassierten, die stehen rundherum und passen auf, dass ihnen keine Kuh zu nahe kommt oder sich vordrängt. Dort gibt es manchmal Raufereien; das ist der schwierigste Teil der Herde. Der letzte Ring, das sind die ganz unten. Die schauen in die entgegengesetzte Richtung die Wiese hinaus und tun so, als merkten sie nicht, dass es bald nach Hause geht. Sie haben keine Probleme im Hierarchiegerangel, sie haben sich mit ihrer Situation arrangiert.

Rangordnung bringt Konkurrenz mit sich. Was hält die Kühe trotzdem zusammen?
Verwandtschaften. Wenn eine Kuh ein Kalb hat, dann bleibt dieses Kalb das Leben lang ihr Kind. Eine zehnjährige Kuh und ihre siebenjährige Tochter fühlen sich immer noch so verbunden wie am Anfang, auch wenn beide inzwischen alte und erfahrene Kühe geworden sind und Nachkommen haben. Das ist das Verbindende in der Herde. Der Mensch, der die Milch wegnimmt, nimmt auch diesen integrativen Teil weg. Spätestens nach vier bis fünf Tagen muss das Kalb von der Kuh weg, sonst gibt das eine so starke Bindung, dass die Kuh über jeden Zaun springt, dann ist man nur noch am Einsammeln von Kühen, die zu ihren Kälbern wollen. Da braucht es ein Abkommen mit den Kühen. Ich mache das so, dass ich den Kühen nur an ihrem Platz zu fressen gebe, bei ihren Kälbchen bekommen sie nichts. Das Fressen bekommen sie von mir, die Kinderliebe vom Kalb.

«Kuhschweizer» ist ein Schimpfwort, die Kuh gilt als dumm und phlegmatisch.
Das sehe ich anders. Eine Kuh hat einen unglaublichen Rhythmus, ein Gleichgewicht. Zwar schlägt sich die Kuh beim Fressen den Bauch voll, die frisst auch Nägel und Drähte. Das Wichtige aber ist das Wiederkäuen, da liegt bei der Kuh die ganze seelische Tätigkeit. Schauen Sie mal einer Kuh zu, wenn sie wiederkäut, da ist sie ganz in sich gekehrt, eine unheimlich intensive Atmosphäre ist das. Es muss für sie ein wichtiges Geschmackserlebnis sein: Eine französische Feinschmeckerin ist sie beim Verdauen, nicht beim Fressen. Beim Verdauen bringt sie alles wieder in einen Rhythmus; das ist das, was das Wesen der Kuh ausmacht.

Das klingt ziemlich abgehoben. Was meinen Sie mit Wörtern wie «Gleichgewicht» und «Rhythmus»?
Wenn eine Kuh stirbt, platzt ihr nach anderthalb Stunden der Magen. Eine gute Kuh frisst täglich ein Viertel ihres Eigengewichtes, das heisst etwa 150 Kilogramm Gras. Das verursacht eine gewaltige Gärung, dass es sie wie einen Ballon aufbläst. Früher wusste jeder Bauer: Wenn eine Kuh stirbt und er sie nicht sofort notschlachten kann, dann muss er ihr den Magen aufschneiden, ihn ausräumen und mit Klammern wieder verschliessen, sonst verdirbt das Fleisch. Wegen der Gärung herrscht im ersten Magen, dem Pansen, eine starke Einseitigkeit. Wenn Sie mit dem Ohr an eine Kuh herangehen, dann hören Sie alle zwanzig Sekunden so etwas wie ein Gewitter mit gewaltigem Donner; der ganze Magen wird komplett umgewälzt. Bleibt es ruhig, ist die Kuh krank und hat einen Magenstillstand, das überlebt sie nicht lange. Zur Verdauung im Magen kommt das Wiederkäuen hinzu. Eine Kuh hält das gärende Gras damit im Gleichgewicht, indem sie ununterbrochen daran käut, täglich acht Stunden lang. Diese Lebenskraft, die es braucht, um dem gewaltigen Druck der Gärung entgegenzuwirken, zeichnet die Kuh aus.

Hochleistungskühe sind so gezüchtet, dass sie auch mit Fieber täglich vierzig Liter Milch geben. Sind da die Selbstregulierungskräfte nicht gestört?
Das ist die Kehrseite: Eine Kuh hat so viel Lebenskraft, dass man mit ihr alles machen kann. Man kann den Stier­samen hundertfach verdünnen, und er reicht immer noch aus für eine erfolgreiche Befruchtung. Der Embryotransfer ist bei der Kuh kaum mehr ein Problem. Beim Pferd und beim Schwein funktioniert bereits die künstliche Besamung nicht so richtig. Die Kuh gleicht aus und kompensiert, aber natürlich immer auf Kosten von etwas anderem, und irgendwann bricht das System zusammen, und es braucht Spitzenmedizin, damit sie überhaupt noch weiterlebt.

In Ihren Vorträgen beschäftigen Sie sich vor allem mit der Mensch-Tier-Beziehung. Warum ist diese so zentral?
Forscher und Forscherinnen des Forschungsinstituts für Biologischen Landbau (FiBL) in Frick haben diesen Zusammenhang auf unserm Hof untersucht: Welche Kuh entspricht am meis­ten «der Kuh»? Welche Kuh hat die grösste Gleichgewichtskraft, und wie finden wir das heraus? Untersucht wurde zum Beispiel das Temperament der Kühe: Da wurden die Kühe von Personen, die die Kühe nicht kannten, wissenschaftlich geputzt, das heisst, ihre Reaktion auf den intensiven Kontakt beim Putzen wurde mit einer Skala bewertet: ruhig, ziemlich ruhig und so weiter bis sehr nervös. Das erstaunliche Resultat: Wenn Mensch und Kuh ein ungestörtes Verhältnis haben, dann gibt diese gerne Milch und hat weniger Euterentzündungen. Andere Untersuchungen bestätigen das: Ein gutes Verhältnis zum Bauern ist wichtiger als das Platzangebot. Der Mensch übernimmt bei der Kuh die so­ziale Rolle des Kalbes.

Die Mensch-Tier-Beziehung ist für die Kuh und ihre Gesundheit wichtig. Was bringt dieses enge Verhältnis dem Menschen?
Die Kuhherde ist für unser Zusammenleben auf dem Hof wichtig. Wir haben hier eine therapeutische Gemeinschaft. Füttern, melken, auf die Weide lassen, heimholen, füttern, melken – diese Abläufe geben unserer Gemeinschaft einen harmonisierenden Rhythmus, wie eine Art Metronom. Man weiss immer, was als Nächstes kommt, dann kann man offener sein für Neues. Wir hatten einmal einen Sommer lang keine Kühe. Die Folge war, dass die Essenszeiten nicht mehr eingehalten wurden. Wir mussten quasi eine militärische Ordnung aufstellen, um den Tagesrhythmus künstlich aufrechtzuerhalten. In fünfzig Jahren wird jedes Schulhaus eine Kuh haben, weil man auf dieses Harmonisierende und Rhythmische nicht mehr verzichten will. Je mehr es in der Schule darum geht, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern Fähigkeiten zu entwickeln, desto weniger wird man auf Haustiere verzichten können.

Was sind Ihre konkreten Pläne?
Wurst machen. Aus der Kuh kann man beschränkt «Frischfleisch» machen, also keine Steaks oder Entrecôtes, sondern nur «langes Fleisch», das lange in der Pfanne liegen muss. Das macht aber heute niemand mehr. Die Kuh ist die Wurst. Doch Würste sind heute etwas vom Schlimmsten in Bezug auf Zusatzstoffe; da ist Nitrit drin, Phosphat, Pökelsalz, Emulgatoren, Geschmacksverstärker. Wir wollen gute und neue Würs­te machen, also zum Beispiel Majoranwürste, Fenchelwürs­te, Zwiebelwürste ... Würste mit einem neuen Geschmack, biologisch natürlich. Früher gab es auch nur eine Sorte Ravioli, heute isst man Ricotta-, Zitronen- oder Senfravioli. Wir suchen per Inserat einen innovativen Wurster; eine geeignete Metzgerei haben wir schon in Aussicht.

Martin Ott

Martin Ott ist Meisterlandwirt, biodynamischer Bauer, Liedermacher, Sozialtherapeut und ehemaliger Kantonsrat der Grünen. Er bewirtschaftet mit befreundeten Familien, Lehrlingen, Praktikantinnen und mit geistig oder psychisch behinderten Menschen den grössten Biobetrieb der Schweiz in Rheinau (Kanton Zürich) mit Schweinen, Schafen, Pferden, Gänsen, Hühnern und Bienen sowie 65 Milchkühen und 30 Rindern.